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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Berg
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hätten sie mehrere. »Danach habe ich mir … Ich habe einen Waffenschein. Es geht also alles mit rechten Dingen zu. Trotzdem wäre es mir lieber, wenn ihr Philipp und Vev nichts von der Pistole erzählen würdet, ja? Tut ihr mir den Gefallen? Wir wollen doch, dass es schöne Tage werden.«
    Yasmin und Timo nickten, aber sie waren auf einmal sehr nachdenklich und ernst.
    Leonie spürte, wie etwas in ihr verkrampfte oder vielmehr verhärtete. Das war kein passives, sondern ein aggressives, auf Angriff gerichtetes Gefühl, vergleichbar mit einer Viper, die sich einrollte, bevor sie zustieß. Mit dem Unterschied, dass die Aggression ihr selbst galt.
    Lexotanil, dachte sie. Lexotanil. Nur wie könnte sie die Einnahme einer weiteren Tablette begründen? Gar nicht. Sie kam jetzt nicht an das Beruhigungsmittel heran.
    Mit der rechten Hand griff sie wie ein Schaufelbagger in die Erde. Dann sagte sie: »Das ist Hiddenseer Ton. Man findet ihn überall auf der Insel. Er ist berühmt. Habe ich im Reiseführer gelesen.« Sie formte einen Kloß aus dem Tonklumpen. »Hier, für dich, Timo.«
    »Für mich? Oh, danke.« Er wollte das feuchte Geschenk entgegennehmen, wie er Clarissas krakelige Zeichnung entgegengenommen hatte, aber im letzten Moment drückte Leonie ihm die Masse auf die Stirn.
    »Fang mich!«
    Lachend lief Leonie weg, Timo hinter ihr her.
    »Na warte, du.«
    Timo hätte Leonie problemlos einholen können – sie war nicht gerade sportlich, und er war flink –, doch zum einen wollte er das gar nicht, zum anderen suchte sie Rettung im knietiefen, kalten Wasser. Ihre Schuhe hatte sie dabei an.
    »Fang mich, wenn du kannst«, rief sie.
    »Du bist verrückt«, antwortete er und wich vor der Ostsee zurück. »Du wirst ja ganz nass.«
    »Traust du dich etwa nicht?«
    »Du hast gewonnen, ich verzichte auf Rache.«
    Sie lachte. »Das will ich dir auch geraten haben. Denn meine Rache wäre weit schrecklicher als deine.«
    Wieder auf dem Trockenen, zog sie ihre Schuhe und Strümpfe aus, wobei ihr Timos Schulter als Stütze diente. Sie krempelte die Hosen fast bis zu den Knien hoch.
    »Ist das herrlich«, ächzte sie wohlig und strich sich das in die Stirn gefallene kastanienbraune Haar zurück. »So ein Tag am Meer macht aus mir einen ganz anderen Menschen.«
    Als sie zurückkamen, stand Vev auf der Veranda, so formvollendet, dass Heidi Klum von Neid erfasst worden wäre. Im Whiskyglas zischten, klingelten und knackten die Eiswürfel, von einem schlanken Handgelenk im Uhrzeigersinn geschwenkt. Vev trug ein Kleines Schwarzes, in das sie hineingeboren zu sein schien. Sie war einmal ein sehr schöner Teenager gewesen, und einiges davon war übrig geblieben. Aber Timos Faszination für sie ging zu gleichen Teilen von dem aus, was nicht übrig geblieben war, was ihr Leben gestört, ihre Schönheit beeinträchtigt, ihr Glück getrübt hatte: dem ironischen Zug um ihre Lippen, einer Sekunde Traurigkeit in ihren Augen, einer Stirnfalte in der glatten Haut, ungerade wie eine Ackerfurche.
    Clarissa, von ihrer Mutter kurz liebkost, lief danach sofort ins Haus, weil für Kinder das, was sich jenseits einer Tür befindet – egal auf welcher Seite der Tür sie gerade stehen –, immer das Interessantere ist. Die barfüßige Leonie, nass bis zu den Knien, kündigte an, vor dem Essen noch duschen zu wollen. Yasmin war seit der Sache mit der Pistole sehr still geworden, so als hätte sie einen Geist gesehen, und ging beinahe wortlos ins Haus.
    »Hallo, Schatz«, sagte Philipp und gab Vev einen Kuss. »Ist Frau Nan mit dem Essen fertig?«
    »Sie brät gerade Mangos. Ich bin vor ihrem Arbeitseifer geflohen.«
    »Vielleicht braucht sie Hilfe.«
    »Wer braucht die nicht?«
    »Schatz …«
    Vev verdrehte die Augen. »Ich habe sie gefragt, und sie hat mich fortgeschickt, nachdem sie mich zwei Minuten lang wie eine Billardkugel durch die Küche gestoßen hatte.«
    »Also gut. Essen wir in einer halben Stunde? Den Aperitif hast du dir ja schon genehmigt, wie ich sehe.«
    Sie zog ein Gesicht wie zu einer uralten Geschichte. »Ich läute den Gong, wenn es so weit ist, Mylord.«
    »Ich gehe mal rein und sehe nach dem Rechten«, sagte Philipp.
    Nachdem er im Haus verschwunden war, sah Vev Timo an. Zum ersten Mal waren sie allein, nur die Zikaden im Gras leisteten ihnen mit ihrem Gesang Gesellschaft. Kurz ging ihm, den manche auf Ende zwanzig schätzten, beim Anblick der faszinierenden Mittvierzigerin Ödipus durch den Kopf, jener Grieche, der sich

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