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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Berg
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versehentlich in seine Mutter verliebt hatte und nach dem ein Komplex benannt worden war. Die umgekehrte Konstellation, dass jüngere Frauen sich ältere, oft betuchte Männer aussuchten, galt als selbstverständlich, und keiner redete dabei von einem Dagobert-Duck-Komplex. Die Geschichte von Ödipus war übel ausgegangen. Timo ließ sich jedoch von einer griechischen Sagengestalt nicht beirren und blickte Vev in einer Wallung von Mut überraschend schamlos direkt an.
    »Mir kommt es vor, als wolltest du mir etwas sagen«, sagte sie.
    »Du siehst gut aus.«
    Vev zuckte mit den Schultern. »Ach, weißt du, es gibt junge, flotte Bienen und alte, würdevolle Frauen. Die Jugend bezaubert, und das Alter schlägt in den Bann. Beides hat etwas. Alles zwischen vierzig und sechzig ist Mist.«
    »Sag das nicht.«
    »Du darfst nicht mitreden, du bist noch zu jung. Lass uns in zehn Jahren wieder darüber sprechen. Ich kann mir wenigstens ein schwarzes, enganliegendes Kleid anziehen und so tun, als wäre ich Barbara Schöneberger. Aber du …«
    »Ich verspreche, ich werde das auch mal versuchen, wenn es so weit ist.«
    Vev lachte leise.
    »Wirklich«, beharrte Timo, »du siehst gut aus.«
    Eine Weile lang schwenkte sie ihr Glas und blickte in das köstliche Gold des Whiskys, als suche sie darin Rat, und in dieser Zeit schwiegen sie.
    Timo steckte die Hände in die vorderen Hosentaschen und betrachtete seine Schuhe. Sein Mut hatte sich rasch wie eine gestrandete Welle zurückgezogen. Er war kein Don Juan, außer wenn er Romane schrieb. Wie fast alle Schriftsteller schrieb er zum Teil deswegen, weil er in seinen Texten Gefühle leben und Taten vollbringen konnte, zu denen er sonst nicht fähig war oder die er sich verbot. Seine Figuren zeigten vulkanische Ausbrüche von Leidenschaft, lebten eine Amour fou, setzten alles auf eine Karte, sie gewannen und verloren, warfen ihr bisheriges Leben über Bord, stiegen auf und verglühten. Es waren Figuren, die ihn stolz machten – und neidisch. Wäre er wie sie, hätte er Vev gegenüber eine erotische Andeutung gemacht, sie vielleicht sogar berührt. Er tat nichts dergleichen, obwohl er es unbedingt wollte.
    Aber wollte sie es auch? Er fürchtete, nein. Außer Vevs Blick, der sich mit schamloser Intensität an ihm festhielt, gab es nichts, was ihn veranlasst hätte zu glauben, sie interessiere sich ernsthaft für ihn.
    »Komm, Timo, du brauchst einen Drink. Whisky?«
    »Ich glaube, ich brauche tatsächlich einen.«
    Sie hielt ihm die Tür auf. »Das ist die richtige Einstellung. Meiner Ansicht nach hat die Neuzeit an dem Tag begonnen, als der Whisky erfunden wurde.«
    Drinnen sang der Buena Vista Social Club, auf dem Esstisch flackerten Kerzen, das Eis klimperte im Glas, durch die riesige Terrassentür flutete der Sonnenuntergang herein. Von einem Moment zum anderen schien man von Hiddensee in eine tropische Sommernacht gelangt. In der Küche wuselte Frau Nan mit flinken und geschickten Händen herum, es duftete dort nach Zitronengras und Curry, im Wohnzimmer nach Wein, Whisky und Zigaretten, und als die frisch geduschte Leonie dazukam, auch noch nach Shampoo. Frau Nan hatte einen leckeren Salat vorbereitet und als Hauptgang ein Gericht mit Garnelen, die auf einem Leichenbett aus grünem Blattgemüse und Reis lagen. Zum Dessert sollte es gebratene Mango auf Bananenblättern geben.
    Bevor Clarissa ins Bett musste, verabschiedete sie sich von »Tante Nian«. Timo begleitete sie in die Küche und ahmte die Verneigung der Kambodschanerin nach. Anderen Kulturen gegenüber hatte er sich schon immer zu einer besonderen Höflichkeit verpflichtet gefühlt, und er betrachtete Frau Nan voller Interesse. Sie war Mitte bis Ende sechzig, nicht größer und schwerer als Timo mit zwölf, hatte dünnes, schwarzgrau meliertes Haar, das sie hinten zu einem Knoten zusammenband, tiefe Falten und den kleinen Mund eines Stummfilmstars. Was ihm besonders auffiel, waren ihre geschwollenen Handgelenke, deren grüngelbe Farbe an das Dessert erinnerte. Keiner der anderen bemerkte diese Schwellungen und Blutergüsse. Frau Nan trug unter der Schürze ein langärmeliges schwarzes und schmuckloses Kleid, in dem sie wie eine frische Witwe aussah. Nur einmal rutschten die Ärmel hoch, als sich die kleine Clarissa ihr zum Abschied in die Arme warf. Frau Nan bemerkte, was Timo bemerkt hatte, rückte ihr Kleid zurecht, warf ihm einen nicht unbedingt bösen, aber durchaus kritischen Blick zu und verließ bald darauf das

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