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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Berg
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zwischen 2005 und 2010 drei Artikel in Architekturzeitschriften erschienen, außerdem war er mehrfach interviewt worden. Seine Konstruktionen waren viel gelobt, wenngleich eine Kritik lautete, dass »Lothringer nicht willens oder in der Lage ist, ein Gebäude mit der Umgebung korrespondieren zu lassen. Seine Bauwerke stehen immer nur für sich und beziehen den Ort nicht ein. Das hat etwas Künstliches«.
    Er stammte aus einfachsten Verhältnissen, aufgewachsen in den siebziger und achtziger Jahren in Salzgitter, fünf Geschwister, der Vater ein Fabrikarbeiter ohne Ausbildung, die Mutter Reinigungskraft in derselben Fabrik. Es mangelte der Familie an allen Ecken und Enden, vor allem nachdem der Vater bei einem Arbeitsunfall den rechten Arm verlor und erwerbsunfähig wurde. Philipp machte als einziges der sechs Kinder das Abitur. In einer Berliner Studentenzeitung veröffentlichte er 1993 eine flammende Streitschrift gegen die Ausbeutung von Mensch und Natur und den um sich greifenden Neoliberalismus mit dem Titel »Jene abschaffen, die die Armut nicht abschaffen wollen!«.
    In seiner Biografie gab es nach seiner Aktivistenzeit eine Lücke von mehreren Jahren, in denen er sich offenbar gemäßigt hatte, warum auch immer. Auf seiner Homepage, die seit zwei Jahren nicht aktualisiert worden war, las ich, dass er sich zwischen 1998 und 2001 um nicht weniger als vierzehn städtische Projekte zum Sozialwohnungsbau beworben hatte, jedoch immer abgelehnt worden war. Seine Entwürfe schienen mir frisch und modern zu sein, sie sahen einladend aus. Das einzige eingestellte Foto von ihm zeigte ihn mit seiner kleinen, lachenden Tochter, die genauso groß war wie sein neuestes Modell für ein Einkaufscenter in Schwerin und auf deren Haupt seine schützende Hand ruhte.
    Auch über Timo Stadtmüller hatte ich einiges gefunden, was ich der Tatsache verdankte, dass das Internet nichts vergisst. Er stammte aus Wriezen in Brandenburg und war Jahrgang 1976. Dass er ein eher schlechter Schüler gewesen, ebenso dass er unsportlich und daher bei gleichaltrigen Jungen wenig geachtet war, hatte ich einem sechs Jahre alten Blog entnommen. Darin beklagte er sich auch über seine Eltern, die ihm nie etwas zugetraut hätten, und sprach über Versagensängste. Das war, wohlgemerkt, zwei Jahre vor der Veröffentlichung seines ersten Romans. Keiner der Buchhändler, bei denen ich nachgefragt hatte, kannte Autor oder Werk.
    Ferner fand ich heraus, dass er vor zwei Jahren einhundertzweiundzwanzig Freunde bei Facebook gehabt hatte. Auf seiner Homepage, die wie Philipps veraltet war, schrieb er humorvoll über sich, sein Leben und seine Arbeit. Mir vermittelte sich das Bild eines Menschen, der sich einerseits nicht allzu wichtig nahm, andererseits um Bestätigung buhlte. Ich blickte in ein sympathisches Gesicht, in blaue Augen, über denen blonde Strähnen hingen, und auf einen schlanken, leicht unterdurchschnittlich großen Körper. Mein erster Instinkt war, diesen jungen Mann beschützen zu wollen.
    Yasmin Germinal war – aus Journalistensicht – ein harter Brocken. Über ihre Herkunft erfuhr ich nur, dass die Germinals im Saarland eine große Nummer waren. Sie führten ein Adelsprädikat im Namen, besaßen eine angesehene Anwaltskanzlei und waren an einer Privatbank beteiligt. Da die beiden Geschwister von Yasmin in Internaten erzogen worden waren, ging ich davon aus, dass es bei ihr nicht anders gewesen war. Ihr Bruder hatte nach den Ereignissen von Hiddensee eine kurze Stellungnahme per Fax verschickt (auf dem Briefpapier der Anwaltskanzlei), in der er klarstellte, dass Yasmin an ihrem achtzehnten Geburtstag, dem Tag ihres Auszugs aus dem Elternhaus, jeglichen Kontakt zur Familie abgebrochen hatte.
    Nachdem ich all das noch einmal hintereinanderweg gelesen hatte, konnte ich gut nachvollziehen, wie diese drei Menschen sich Mitte der Neunziger begegnet und zusammen in der Protestbewegung aktiv geworden waren: Yasmin, die das, was ihre Eltern darstellten, ablehnte und vielleicht sogar hasste, Philipp, der in Armut aufgewachsen war und Ausbeutung bekämpfen wollte, und Timo, der alles daransetzte, Anschluss zu finden und sich zu beweisen.
    Nur wie passte Leonie dazu? Schlecht, wie ich fand.
    Ich sah mir die Fotos an, die mir ihre Mutter überlassen hatte. Leonie wirkte brav. Wie sie sich kleidete und frisierte, wie sie wohnte und wo sie Urlaub machte – all das hatte etwas absolut Durchschnittliches, Konventionelles und passte zu den anderen

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