Das Nebelhaus
wieder mal bewusst, wie wenig ich von seinem Leben wusste, schon als er noch bei mir gewohnt hatte, und wie wenig wir alle von denen wissen, die wir zu kennen glauben.
»Hi, Mam, das ist ja eine Überraschung.«
»Hi. War ’ne spontane Idee. Störe ich?«
»Nö, gar nicht, ich bin im Schwimmbad.«
Ich lächelte. Beinahe hätte ich ihn gefragt, wer auf der Decke nebenan lag und ob die beiden Mädels ihm gefielen.
»Und du?«
»Im Zug, irgendwo bei Fulda.«
»Cool, dann komm doch vorbei. Ich gebe ein Eis aus.«
Es freute mich, dass er mich einlud, und noch mehr, dass er es sich im Schwimmbad gutgehen ließ, anstatt seinen Rücken über Büchern zu krümmen. Wie ich ihn einschätzte, hatte er das in den letzten Wochen fast nur noch getan.
»Und wo soll ich schlafen?«
»In meinem Bett im Wohnheim, ich penne einfach woanders.«
»Ist das erlaubt? Ich meine, dass ich im Wohnheim schlafe.«
»Nö, aber du siehst jung genug aus, Mam, dass alle dich für eine Langzeitstudentin halten.«
Ich lachte. »Schleimer. Du musst dich nicht anstrengen, die Überweisung an dich geht auch so pünktlich raus.«
»Ach, das hat keine Eile. Im Ernst, komm vorbei.«
Ich war ganz nah dran, ja zu sagen. In meiner Brust formte sich bereits die Zustimmung, quiekende Freude. Es strömten Worte zusammen, warm, demütig und dankbar angesichts des gemeinsamen Weges, den Jonas und ich zurückgelegt hatten: die Geburtstagsfeste mit Kuchen und Kindern, das parallele Lesen eines Buches und die anschließende Unterhaltung darüber, der Klamottenkauf, bei dem er mich irgendwann nicht mehr dabeihaben wollte, die Poster der Pop- und Rockstars, die mir immer fremder wurden, sein Debut im Laientheater mit mir in der ersten Reihe, die Fahrt auf seinem neuen Moped, als ich mich zum ersten Mal an ihm festhielt und nicht umgekehrt. Aber auch der Tag seines Auszugs, als für eine Stunde die Welt stillstand, und der Tag danach, als ich mich nutzlos fühlte.
Er hatte jene Jugend gelebt, die Benny verwehrt worden war.
»Weißt du, da ist dieser Auftrag …«, sagte ich, indem ich nur das wiederholte, was mir der Polizist in meinem Kopf vorgegeben hatte, die Stimme des Ordnungshüters, der mich zur Arbeit anhielt. »Bist du jetzt böse?«
»Quatsch, nein. Wäre aber schön gewesen.«
Ein paar Sekunden lang sagte keiner etwas. Dann er: »Also gut, Mam, ich werde mich jetzt mal abkühlen. Oder ist noch was?«
»Nein, nichts, alles in Ordnung. Dann bis bald, ja?«
»Bis bald, tschüss.«
»Ich habe dich lieb, Großer«, rief ich noch, aber da hatte er schon aufgelegt.
Der Zug glitt mit zweihundertzwanzig Stundenkilometern dahin, schneller noch als zuvor flogen Landschaft und Menschen an mir vorüber, Bahnübergänge, Straßen, Bäume und dazwischen alle möglichen Emotionen. In einem Tunnel musste ich beinahe weinen, ohne zu wissen warum. Ich dachte: Das war entschieden nicht deine Woche, Doro. Auch diesen Gedanken verstand ich nicht, da die vergangenen sieben Tage nicht anders als die Wochen und Monate davor gewesen waren. Nicht anders als die letzten Jahre.
Ein dicker Mann setzte sich auf den Platz neben mich. Er schwitzte, wie wir alle, und sein Hemd, das gelegentlich meinen Arm streifte, war unangenehm feucht. Als er versuchte, ein Gespräch mit mir anzufangen, kramte ich meine Arbeit hervor.
Ich hörte mir die Aufzeichnung des Interviews mit Margarete Korn an und machte Notizen: kein glücklicher Mensch seit dem achten Lebensjahr … launisch … Kopfschmerzen … verknallt in Timo S. … Steffen Herold, gutaussehend, kalt … vom Vater in den Schuppen gesperrt … Mutter: Zeiten der Apathie … Dann spulte ich das Band ein wenig vor und setzte an der Stelle wieder ein, wo Margarete Korn mehrmals wiederholte: »Sag es, Leonie, sag es ihr.«
Während die Passage weiterlief, blätterte ich in den Rechercheunterlagen, die ich mit auf die Reise genommen hatte. In den spärlichen Stellungnahmen von Staatsanwaltschaft und Polizei sowie in den Zeugenaussagen der überlebenden Beteiligten tauchte nirgendwo die Angabe auf, dass Leonie dabei gesehen worden war, wie sie schoss. Auch Yim war erst dazugekommen, als die Schüsse schon gefallen waren.
Sag es ihr, Leonie, sag es.
Ich kramte alles hervor, was ich über das Leben von Philipp Lothringer, Timo Stadtmüller und Yasmin Germinal gefunden hatte, vor allem über das, was sie einst zu Aktivisten gemacht und zusammengeführt hatte. Bei Philipp Lothringer war es einfach gewesen, über ihn waren
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