Das Nebelhaus
Informationen, die ich über sie hatte. Sie war eine ordentliche Schülerin mit mittlerer Reife, unauffällig, ohne Hobbys, ohne konkrete Berufswünsche. Erzieherin war sie eher zufällig geworden, vorher hatte sie sich nie für Kinder interessiert. Ihr radikales Engagement für Tiere und Umwelt hatte in meinen Augen etwas Künstliches, es begann und endete ohne Vor- und Nachgeschichte. Margarete Korn hatte die Launenhaftigkeit ihrer Tochter erwähnt, und die Zeit bei den Aktivisten war ebenso eine Laune gewesen wie der Umzug nach Berlin, den Leonie bald darauf durch ihre Rückkehr in die Heimat korrigiert hatte.
Als Nächstes versuchte ich mir vorzustellen, wie diese Menschen vor zwei Jahren im September aufeinandergetroffen waren: Yasmin, noch immer alten Idealen verhaftet, Philipp, ein wohlhabender Architekt mit Glaspalast, Timo, der kleine Autor mit Nebenjob, und die launenhafte Leonie, deren Alltag eher bieder war. Hatten die Schwächen der einen und die Schwächen der anderen sich am Ende zu einer Katastrophe addiert?
Mein Madonna-Klingelton »La isla bonita« riss mich aus meinen spannenden Überlegungen heraus.
»Kagel.«
»Guten Tag, hier spricht Doktor Klaus-Werner Mierow vom Kreiskrankenhaus Bad Homburg. Ich betreue und überwache den Zustand von Leonie Korn. Sie sind im Bilde? Frau Margarete Korn hat mich von meiner Schweigepflicht entbunden und dringend gebeten, mit Ihnen zu sprechen. Obwohl ich es nicht gerne tue, werde ich ihrem Wunsch nachkommen. Die arme Frau Korn macht schon genug durch. Sie hat angedeutet, dass Sie Fragen wegen der Verletzungen ihrer Tochter haben.«
Ich hatte keine brennenden Fragen parat. Leonies Schussverletzung war nur ein winziges, nicht sonderlich interessantes Detail für meinen Artikel, in dem es um Verletzungen ganz anderer Art gehen sollte, etwa um die Hiebe in Leonies Jugend, die sie erhalten und dreißig Jahre später mit tausendfacher Brutalität ausgeteilt hatte. Was hatte Steffen Herold zu erzählen? Was ihre früheren Lehrer und Mitschüler? Was die Kollegen im Kindergarten? Der behandelnde Arzt der Komapatientin war für mich ein nebensächlicher Zeuge, und mir war klar, dass Frau Korn ihn nur deshalb eingeschaltet hatte, weil sie sich davon eine Stützung ihrer These versprach.
»Sagen Sie mir doch bitte, Doktor Mierow, welche Verletzungen die Patientin bei der Einlieferung in die Rostocker Notfallklinik aufgewiesen hat«, fragte ich in einschläferndem Tonfall.
»Eine schwerwiegende Schussverletzung des Mundraums und des Gehirns. Die Mündung der Pistole hat sich demnach am Unterkiefer befunden und nach oben gewiesen, als der Schuss fiel. Das Projektil drang durch den Mundraum ins Gehirn. Leonie Korns Überlebenschancen waren von Anfang an äußerst gering. Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt noch stabilisiert werden konnte, vor allem wenn man bedenkt, dass die Rettungskräfte wegen eines Sturms erst am Morgen nach der Tat eintrafen. Ihre Lebenszeichen waren so schwach, dass die Rettungssanitäter zunächst glaubten, sie wäre tot.«
»In welcher Entfernung vom Unterkiefer hat sich die Mündung der Pistole befunden? Können Sie das sagen?«
»Die Mündung kann nicht weiter als einen oder zwei Zentimeter entfernt gewesen sein.«
»Hatte sie weitere Verletzungen?«
»Ja, laut Protokoll eine Stichwunde am linken Oberarm, verursacht durch einen dünnen Gegenstand, einen Nagel vielleicht. Die Wunde hatte sich leicht entzündet, muss also mindestens einen Tag vor dem Schuss erfolgt sein. Ferner einige Kratzwunden auf beiden Handflächen. Und dann gab es da noch leichte Brandverletzungen auf beiden Brüsten. Keine dieser Verletzungen war gefährlich. Jeder Laie hätte sie mit Jod und einem Pflaster oder Verband versorgen können. Außerdem fanden sich zahlreiche Narben längst verheilter Wunden. Entweder hat Frau Korn ein verletzungsreiches Hobby ausgeübt, oder sie wurde misshandelt – von jemand anders oder von ihr selbst.«
»Ich verstehe.«
»Nicht zu vergessen die Prellung am rechten Mundwinkel, die eine Schwellung zur Folge hatte. Sie stammt, ebenso wie die Brandverletzungen, vom Tag ihrer lebensgefährlichen Schussverletzung, verursacht durch einen Schlag oder Aufprall.«
»Sie könnte also entstanden sein, als Ihre Patientin nach dem Schuss zu Boden gefallen ist? Oder bei einem Kampf?«
»So ist es.«
»Ich danke Ihnen, das war’s schon. Auf Wiederhören.«
Doktor Mierows Informationen änderten meine Einstellung zu Leonie Korn und dem
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