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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Berg
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Haus.
    Es wurde ein lustiger Abend, alle kamen aus sich heraus. Die anfänglichen Verkrampfungen lösten sich auf unter der vereinigten Einwirkung von Alkohol, gutem Essen, Meeresluft und der Einsicht, dass sie sich vielleicht nach drei Tagen auf den Wecker gehen würden, dies aber nicht schon am ersten Tag brauchten. Wäre Vev nicht gewesen, hätte Timo seinen Ausflug vielleicht bedauert. So aber spürte er ein Prickeln, wie er es noch nie erlebt hatte.
    Null Uhr zweiundzwanzig. Leonie saß seit einigen Minuten vor dem Spiegel und kämmte sich die Haare mit einer klobigen Bürste. Sie liebte die rhythmische Bewegung des Haarekämmens, und sie liebte es, sich vor dem Spiegel schön zu machen für die Nacht. Sie rieb sich ihr Dekolletee und die ausgeprägten Brüste mit Mandelmilch ein, zupfte die etwas zu üppigen Augenbrauen, trug farblosen Fettstift auf die Lippen auf und cremte die ihrer Meinung nach zu fleischigen Hände. Danach tupfte sie sich zwei Tropfen eines – für ein Erzieherinnengehalt – viel zu teuren Parfüms hinter die Ohren und schlüpfte in ein schimmerndes, weites Negligé, in dem sie sich manchmal wie eine Gospelsängerin vorkam, das sie aber elegant fand. Dann legte sie sich auf das Bett, ohne sich zuzudecken und die Augen zu schließen.
    Eine Weile blieb sie so liegen. Sie ließ die Bilder des vergangenen Tages an sich vorüberziehen, die meisten hatten mit Timo zu tun: sie und Timo beim ersten Wiedersehen in Berlin … sie und Timo im Auto … sie und Timo auf der Fähre … sie und Timo am Strand … sie und Timo …
    Leonie hatte sich nie getraut, ihm zu gestehen, was sie für ihn empfand, und außer ihrer Mutter hatte sie niemandem davon erzählt. Mehr als alles fürchtete sie die Lächerlichkeit, seit in der Schule ein von ihr an einen Klassenkameraden geschriebener Liebesbrief die Runde gemacht hatte. Ein paarmal während ihrer gemeinsamen Zeit in der Aktionsgruppe hatte sie mit dem Gedanken gespielt, auf Timo zuzugehen, doch am Ende hatte ihr immer der Mut gefehlt. Wäre Timo nicht gewesen, hätte sie nicht gewartet, bis die Gruppe sich auflöste, sondern wäre schon ein Jahr früher ausgestiegen.
    Sie war ohnehin nur »irgendwie« in die Aktionsgruppe hineingerutscht, im Grunde über ihre Einsamkeit. Nach dem Tod ihres Vaters – achtzehn Jahre war das jetzt her – hatte sie sich von allem lösen wollen und war nach Berlin gegangen, wo sie sich mit diversen Jobs durchgeschlagen hatte und bald ein wenig vereinsamt war. Weil sie Katzen liebte und Mitleid für die streunenden Großstadtkatzen hatte, trat sie in einen entsprechenden Verein ein und kam darüber zu den Naturschützern. Dort lernte sie Timo kennen, und als er davon sprach, sich weitergehend zu engagieren, folgte sie ihm.
    Wider eigenes Erwarten machten ihr die Aktionen großen Spaß: im Strahl eines Wasserwerfers zu stehen, sich von starken Polizisten wegtragen zu lassen, auf einem Transparent zum Boykott eines Textilkaufhauses aufzurufen, das echte Pelze verkaufte, Schleppnetze in Bremerhaven durchzuschneiden … Sie kam sich wie etwas Besonderes vor, stark, extravagant und mächtig – bis sie eines Morgens aufwachte und aller Aktionen müde geworden war. Quasi über Nacht verlor sie das Interesse an Nerzen, Hühnern, Fröschen, Adlern, Delfinen, Sümpfen, Wäldern und Gewässern. Sie sagte sich: Man erreicht ja sowieso nichts, man macht sich nur etwas vor, man gibt Stunden und Tage hin, um Stechmücken zu retten, die einen gnadenlos quälen, und Fische, die ein Gehirn so groß wie ein Stecknadelkopf haben. Timos wegen blieb sie bei der »Grünen Zora« – den Namen hatte sie schon damals albern gefunden –, aber dann kam er eines Tages an und erklärte, dass er bald für zwei Auslandssemester nach Lille in Frankreich gehe. Er hatte noch eine Party für vierzig Leute gegeben, dann war er weggegangen, und Leonie hatte es nur noch ein halbes Jahr in Berlin ausgehalten, bevor sie in ihre Heimatstadt zurückkehrte.
    Sie warf einen Blick auf ihr Handy und stieß einen lauten Seufzer aus, der einen Schlafenden geweckt hätte. Keine Anrufe. Es war null Uhr vierunddreißig, zu spät, um noch einmal bei Steffen anzuklingeln. Er hatte einen ziemlich harten Job bei einer Cateringfirma, er war das, was man den zweiten Chef nannte, und die zweiten Chefs hatten immer die meiste Arbeit. Vielleicht war Steffen auch beleidigt, weil sie ihn nicht gefragt hatte, ob er sie nach Hiddensee begleiten wolle.
    Sie hatte sich richtig

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