Das Nebelhaus
entschieden. Sie war froh, sich auf diese Reise und das Wiedersehen eingelassen zu haben. Denn eines war klar: Timo interessierte sich für sie. Die Zeichen waren unübersehbar. Da war die Art, wie er sie in einem fort anlächelte. Er setzte sich immer neben sie, das war doch kein Zufall. Ließ sich auf Neckereien ein, alberte am Strand mit ihr herum, nannte sie Aster. Er hatte ihr in Berlin sogar ein Buch mit Widmung geschenkt: Für meine Leonie. Herzlich. Wenn das nicht deutlich war: Meine Leonie! Meine! Herzlich!
Beglückt löschte Leonie das Licht.
Als sie es wieder anschaltete, suchte ihr Blick sofort nach der Handtasche und fand sie auf dem Stuhl. Sie holte sie zu sich ans Bett, griffbereit für den Fall, dass … Für keinen speziellen Fall, einfach so.
Routinemäßig warf sie einen letzten Blick hinein. Schmerzmittel, Streichhölzer, Lexotanil …
Sie stutzte. Das war doch nicht möglich.
Die Pistole war nicht mehr drin. Sosehr Leonie in der Tasche auch wühlte – weg.
Sie stand auf, suchte im Bett, unter dem Bett, suchte im Koffer, in den Taschen der Regenjacke, suchte ein zweites Mal in der Handtasche, dann ein weiteres Mal unter dem Bett, unter dem Nachttisch, suchte im Kleiderschrank, in den Außenfächern des Koffers. Sie schlich vor die Zimmertür, sah im Bad nach, lief den Gang ab, tappte die Treppe hinunter, ging ins Wohnzimmer, suchte überall dort, wo die Tasche, wenn auch nur kurz, gewesen war. Die Pistole blieb verschwunden.
»Oh Gott«, murmelte sie wieder und wieder vor sich hin.
Wann hatte sie die Waffe zum letzten Mal gesehen? Leonie, streng dich an! Das war am Strand gewesen, als sie aus der Tasche gerutscht war. Leonie meinte sich zu erinnern, die Pistole zurückgelegt zu haben. Oder nicht? War sie neuerlich herausgefallen? Vielleicht auf dem Weg vom Strand zum Haus?
Natürlich musste sie nun Philipp und Vev informieren, immerhin konnte es sein, dass sie die Waffe im Haus verloren hatte. Unwahrscheinlich zwar, aber nicht ausgeschlossen.
Welche Blamage! Welcher Leichtsinn ihrerseits! Das hätte nicht passieren dürfen.
Sie war eine Idiotin, eine blöde Kuh, die nichts richtig machte. Die jede gute Stimmung verdarb. Die noch nicht einmal auf einen leblosen Gegenstand Acht geben konnte.
Sie weinte. Schlug sich mit der Faust gegen den Kopf, viermal, fünfmal, sechsmal. Setzte sich an den Spiegeltisch, nahm die Nagelfeile in die rechte Hand und sah dabei zu, wie sich die Spitze langsam in den linken Oberarm bohrte.
7
Der August lag schwer auf dem Land, dörrte das Korn, aber im klimatisierten ICE konnte man sich einige Stunden lang darüber hinwegtäuschen. Im Zug zurück nach Berlin sah ich zum Fenster hinaus auf das nordhessische Ackerland. Quadratische Parzellen, bepflanzt mit Kohl, Kopfsalat, Hafer und Mais, flogen vorüber, dazwischen Erntemaschinen mit weit ausgebreiteten Flügeln wie riesige Insekten, Dörfer mit roten Dächern und weißgetünchten Mauern, Wälder aus reglosen Windrädern, umrahmt von braungelben Rasenflächen, und immer wieder Bolzplätze, von denen roter Staub aufstieg, wie der, auf dem Benny immer gespielt hatte.
Seine Trikots sahen den Sommer über aus, als hätte er auf dem Mars gekickt. Ich durfte ihm oft dabei zusehen, wie er sich zusammen mit anderen Jungen auf der Jagd nach dem Ball einstaubte. Er mochte meine Anwesenheit. Und er verteidigte mich mit Freude, wenn andere blöde Bemerkungen wegen meiner dicken Brille oder meiner Zahnspange machten. Zugegeben, seine Attitüde hatte etwas von Ich-Tarzan-Du-Jane, aber das machte mir nichts aus. Benny war der erste Held meines Lebens, und ich werde nie, niemals vergessen, wie sein vom Spiel noch feuchter Arm auf dem Nachhauseweg meine Schulter umschloss, während der andere den Ball umklammerte. Ich glaube, in diesem Moment war er der glücklichste Mensch auf der Welt. Ich wusste kein Wort mehr von dem, was er damals sagte, aber der stille Zug der Zufriedenheit auf seinen Lippen war unsterblich.
Meine Gedanken wanderten von Benny zu meinem Sohn, und ich fragte mich, was Jonas wohl gerade machte. Er wohnte in Marburg nur ein paar Kilometer von der Bahnstrecke entfernt, auf der ich nordwärts fuhr, und ich stellte mir vor, ihn mit einem Blitzbesuch zu überraschen. Würde er über einer Arbeit brüten? Sich im Schwimmbad abkühlen, sorgfältig gemustert von zwei bronzierten Mädels auf der benachbarten Decke? In seinem Studentenwohnheim mit einer Kommilitonin schlafen? Mit einem Kommilitonen? Mir wurde
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