Das Nebelhaus
Amoklauf nur dahingehend, dass die kleinen, alten Verletzungen, die ihren Körper übersäten, Erwähnung in meinem Artikel finden sollten.
Die Indizien sprachen noch immer ganz klar gegen sie, und zwar nicht nur weil sie die Pistole nach Hiddensee gebracht hatte, sondern auch wegen der Vorfälle und Beobachtungen, die von verschiedenster Seite zu Protokoll gegeben worden waren. Dabei kam Leonie insgesamt nicht gut weg. Es deutete wirklich alles auf sie als Täterin hin, mit der einzigen Einschränkung, dass niemand dabei gewesen war, als die Schüsse fielen. Es gab nur eine Tote am Hauseingang, zwei Tote im Obergeschoss und Leonie Korns Versuch der Selbsttötung.
Und dennoch …
Öffne die Augen. Sieh diese Frau an. Sag ihr die Wahrheit.
»Sie sind Ärztin oder Journalistin, habe ich recht?« Der Fahrgast neben mir stellte diese Frage.
Ich sah die Hoffnung in seinen Augen aufblitzen, ein längeres Gespräch mit mir zu beginnen, das ihm die Zeit und später vielleicht noch ein bisschen mehr vertreiben würde. »Nein«, sagte ich. »Ich bin Leichenbestatterin.« Danach hatte ich meine Ruhe.
Etwas später klingelte mein Handy erneut.
»Hallo, hier ist Yim.«
Ich hatte ihm auf der Fahrt nach Frankfurt eine Nachricht auf die Mailbox gesprochen und für den Abend abgesagt.
»Wo sind Sie?«
»Auf der Rückfahrt von meinem Termin, irgendwo in der Nähe von Göttingen.«
»Dann sind Sie in ungefähr eineinhalb Stunden in Berlin. Ich hole Sie vom Zug ab, wir fahren in mein Restaurant, und Sie bekommen dort, was immer Sie wollen.«
»Ich will eigentlich nur schlafen. Es war ein anstrengender Tag.«
»Haben Sie denn keinen Hunger? Oder wollen Sie sich lieber betrinken?«
Ich hatte tatsächlich Hunger. Es war fast neun Uhr abends, und ein halbes Brötchen zum Frühstück sowie ein weiteres aus der Cafeteria des Krankenhauses waren alles, was ich den Tag über gegessen hatte. Ich rief mir den Inhalt meines Kühlschranks vor Augen: ein hartgekochtes Ei, eine Tube Tomatenmark, ein Glas Brombeergelee und eine letzte Scheibe Käse, die an den Rändern bereits angetrocknet war. Irgendwo war noch eine Tüte Reis. Was sollte ich daraus machen? Wildfrüchterisotto con formaggi?
»Das wird aber furchtbar spät für Sie«, wandte ich ein. »Ich will nicht, dass Sie meinetwegen …«
»Also dann gegen halb elf am Hauptbahnhof. Ich warte vor dem Schokoladenladen in der zweiten Shopping-Ebene auf Sie. Mögen Sie Schokolade?«
»Ich bin eine Frau.«
»Gut so. Bis nachher.«
Ich stellte meine Arbeit für einige Minuten ein, lehnte mich zurück, schloss die Augen und versuchte mich auf den Abend zu freuen. In Ansätzen gelang es mir, doch es drängten sich immer wieder die unerquicklichen, wenn auch fesselnden Erlebnisse des Tages dazwischen: das Komazimmer und das über Leonies Körper hinweggeführte Interview, die Behauptungen der Mutter, die Ausflüchte, Schmerzen, die Trauer und die Traurigkeit, der Selbstmord von Philipps Vater, Yasmins totale Abkehr von der Familie, Timos Komplexe. Wie Steine lagen mir die Stunden im Magen, auch im Kopf. Es war unmöglich, sie zu ignorieren.
Yim wartete mit einem Strauß Blumen auf mich – Schokoblumen. Die kleinen Kunstwerke in Weiß hatten die Form von Porzellanrosen, waren zwanzig Zentimeter lang, in Folie verpackt und auf den imitierten Blüten mit roten Streuseln belegt.
»Das wäre doch nicht nötig gewesen.«
»Wenn man immer nur das tun würde, was nötig wäre …« Yim führte den Satz nicht fort. »Sie sehen müde aus, ich werde Sie aufmuntern.«
Ich fühlte mich wohl in seiner Gesellschaft, und gerade deswegen meinte ich, mich unwohl fühlen zu müssen. Es war unübersehbar – und kam ziemlich plötzlich für mich –, dass er mehr wollte, als sich nur zu entschuldigen oder eine lose Bekanntschaft aufzubauen, doch eigentlich war er nicht mein Typ. Ich stand auf Blonde, Modell Schweden, und auf Breitschultrige, Typ Klitschko. Der Vater von Jonas, eine flüchtige Affäre vor dreiundzwanzig Jahren, war so ein Hüne gewesen, seine ganze linke Seite war tätowiert mit Schlangen, Waffen, einem Anker und Ornamentranken. Sie versuchten, die Geschichte einer Selbstfindung zu erzählen, angefangen von den Fremdenlegionären über zwei Jahre auf See bis hin zu einem Sabbatjahr im brasilianischen Dschungel.
Bewegte Geschichten hatten mich immer schon angezogen, vielleicht fühlte ich mich Yim deswegen so nahe. In seiner sportlichen Eleganz und Exotik erinnerte er mich allerdings
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