Das Nebelhaus
eher an einen Bollywood-Schauspieler. Außerdem galt das, was ich am Vormittag befunden hatte, am Abend immer noch: Ich war an neuen Menschen – Männern – in meinem Leben nicht interessiert. Ich war zu keiner Investition in Gefühle bereit. Das Letzte, was ich zu all dem anderen Stress in meinem Leben gebrauchen konnte, war Liebeskummer, und ich wusste nur zu gut, dass Liebe und Liebeskummer siamesische Zwillinge waren, die zu trennen schon viele vergeblich versucht hatten. Trotzdem konnte ich mich Yims Charme nicht völlig entziehen.
Im Taxi sagte er: »Vergessen Sie den anstrengenden Tag. Freuen Sie sich auf ein leckeres Essen und einen kalten Drink. Denken Sie an nichts anderes. Mögen Sie es lieber scharf oder mild?«
»In kulinarischer Hinsicht gehöre ich zur Kokos-Fraktion: mild und sahnig. Was die Drinks angeht, bevorzuge ich normalerweise die Campari-Fraktion: leicht bitter, heute allerdings die Egal-was-Fraktion.«
»Die Bar gehört Ihnen. In den nächsten paar Stunden können Sie tun, was immer Ihnen gefällt.«
»Das ist sehr leichtfertig von Ihnen. Die anderen Gäste werden kaum einverstanden sein mit dem, was ich am liebsten tun möchte.«
»Und das wäre?«
»Eine Platte von den Stones auflegen und den Regler bis zum Anschlag aufdrehen.«
Yim lächelte, und zehn Minuten später verstand ich warum. Das Sok sebai te war menschenleer, der Montag war Ruhetag. Nachdem er sein Restaurant aufgeschlossen hatte, schob er als Erstes eine CD der Rolling Stones in den Player. Dass er die überhaupt dahatte …
»Der Regler, die Bar und der ganze Gastraum gehören Ihnen. Ich bin Ihr Koch und für die nächsten zwanzig Minuten in der Küche.« Er setzte einen Strohhut auf, der an der Wand hing, verbeugte sich dreimal, viermal in der unterwürfigen Manier eines chinesischen Leibeigenen – und schon war er weg.
Yim konnte ein richtiger Spaßvogel sein. Und welche Idee: Zum ersten Mal hatte ich die Herrschaft über ein Restaurant inne, durfte darin tun und lassen, was mir gefiel. Sollte ich mich beherrschen? Eigentlich war mir nicht danach. Ich drehte den Song » 19th Nervous Breakdown « dreiviertellaut auf, bis die Gläser im Regal zitterten und mich auf eine weitere Idee brachten. Ich beschloss, mir einen Strawberry-Daiquiri zu mixen. Dabei bewegte ich meinen Körper nach dem wilden Rhythmus der Musik und brachte ihn in Positionen, von denen ich fast vergessen hatte, dass es sie gab. Meine langen Haare wirbelten durch die Luft, ein leeres Tonic-Glas wurde zum Mikrophon, und mein Mund verzerrte sich in stummen Schreien.
Eine Viertelstunde später, den zweiten Daiquiri in Händen, geriet ich – nicht zuletzt durch körperliche Erschöpfung bedingt – in eine andere Stimmung. Ich legte Enya auf, zündete zwei Kerzen an, setzte mich auf den Bartresen und ließ mir von dem nostalgischen Deckenventilator kühle Luft zufächeln. Ich war froh, die Einladung angenommen zu haben, und fürchtete mich, in meine leere Wohnung zurückzukehren.
Als Yim den Kopf aus der Küche streckte und fragte, ob alles in Ordnung sei, antwortete ich: »Alles bestens. Haben Sie auch kambodschanische Musik da?«
»Klar. Aber wollen Sie wirklich hören, wie eine Geige gestimmt wird, begleitet vom Jammern einer Frau?«
»Gut, nächste Frage. Wie lange dauert es noch?«
»Sofort zu Diensten, gnädige Frau. Meister Yim werden sich beeilen und leckeres Gericht in fünf Minuten bringen. Machen Sie sich bereit auf kulinarisches Erlebnis.«
»Ich warten voller Ungeduld«, erwiderte ich, und Yims Kopf verschwand wieder hinter der Tür.
An der Wand hing ein zweiter Strohhut in Pyramidenform, den ich mir spontan aufsetzte. Ich war jetzt ganz Kind und hatte Lust auf kleine Albernheiten, beflügelt von zwei Gläsern Daiquiri sowie einem Gastgeber, der mich dazu ermuntert hatte, mich gehen zu lassen. Derart verkleidet, betrachtete ich mich im Spiegel der Bar und lächelte.
Gleich daneben hingen Dutzende Fotos, manche davon in Schwarz-Weiß, die meisten in Farbe. Man konnte Yims Entwicklung von seiner Kindheit bis zur Gegenwart verfolgen: Yim vor wenigen Jahren bei der Eröffnung seines Restaurants, sein Kopf umrahmt von Luftballons, Yim als Mittdreißiger beim Wasserskilaufen, ein Bild sprühender Lebensfreude, Yim und eine bildhübsche, junge blonde Frau beim Bergwandern, Yim an einem Grab, sehr nachdenklich, Yim neben einer älteren, kleinen asiatischen Frau – seiner Mutter.
Frau Nan sah auf Fotos immer unnahbar aus, fast streng,
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