Das Nebelhaus
aber wie sie Yims Hand hielt – an ihre Wange gedrückt –, war von einer Zärtlichkeit, die ich ihr nicht zugetraut hätte, obwohl ich sie nicht kannte. Diese Mutter hatte ihren Sohn geliebt, und er hatte sie geliebt, wie den vielen anderen Fotos zu entnehmen war, die Yim als Jugendlichen zeigten. Frau Nan war auf ungefähr einem Drittel aller Aufnahmen zu sehen, ihr Mann war nicht abgelichtet worden.
Ich staunte, wie persönlich viele dieser Fotos waren, ganz anders als die Fotos in anderen Restaurants und Bars, die ja doch nur immer die Besitzer mit Promis zeigten oder mit anderen lachenden Menschen. Yim breitete auf dieser Wand sein Leben in allen Facetten aus. Wie die tätowierte linke Körperseite des Vaters von Jonas erzählte sie eine Geschichte. Aber wie alle guten Geschichten ließ sie genug Raum, um sie mit eigenen Vorstellungen zu füllen.
Ein kleines Foto in der oberen rechten Ecke berührte mich am meisten. Als ungefähr Zwölfjähriger stand Yim darauf in einem gelben Trikot auf einem Rasenplatz, er sah nach oben, ein Ball tanzte auf seinem Kopf. Nichts konnte mir deutlicher vor Augen führen, dass wir uns auf derselben Seite befanden, auf der Seite der Hinterbliebenen. Ich nahm das Foto von der Pinnwand ab und betrachtete es genauer.
Hinter dem Tornetz stehen zwei Gestalten: Frau Nan und – tatsächlich – ihr Mann. Er versucht sich noch abzuwenden, aber es ist zu spät. Jemand hat auf den Auslöser gedrückt. Wieso hat Herr Nan etwas dagegen, fotografiert zu werden? Einerseits ist er nicht besonders fotogen, er hat die Figur eines Hinkelsteins auf Stelzen: ein winziger Kopf, schmächtige Schultern, ein aufgeblähter Bauch, sehr dünne Beine, die ein Kompliment verdienen, den Körper zu tragen. Andererseits scheint er nicht eitel zu sein, dafür ist seine Kleidung zu nachlässig getragen. Das Hemd ist ihm aus der Hose gerutscht, die auf seiner Hüfte keinen richtigen Halt findet, und die Haare sind unsauber gescheitelt. Zwischen ihm und seiner ordentlichen Frau, die direkt in die Kamera schaut, scheint sich ein ganzer Kontinent auszubreiten, obwohl sie nebeneinanderstehen. Und dazwischen, im Vordergrund, der Sohn.
Wieso hatte Yim gerade dieses Foto ausgesucht, um es an die Wand zu heften?
Yim hatte nicht zu viel versprochen. Er servierte uns Hamok Trei , Fischfilets mit Zwiebel-Paprika-Gemüse in einer Kokossoße, gewürzt mit Knoblauch, Ingwer und Zitronengras, auf Bananenblättern. Damit traf er genau meinen Geschmack. Trotzdem war ich nach zehn Gabeln satt und aß nur noch aus Höflichkeit weiter. Der dritte Daiquiri allerdings ging mir leicht runter.
»Ich habe vorhin Ihre Bilderwand bewundert«, sagte ich. »Ihre Familie, Ihre Freunde, Ihre Jugend …«
»Ja, sie wächst fortlaufend. Erinnern Sie mich bitte daran, dass ich nachher ein Foto von Ihnen mache.«
»Von mir? In meinem derangierten Zustand? Für die Wand? Oh Gott.«
»Sie dürfen es vorab zensieren, außerdem kann von derangiert keine Rede sein. Wenn Sie den Strohhut weit genug in die Stirn ziehen, erkennt man Sie sowieso nicht.«
»Au weia, ich soll den Strohhut tragen?« Ich lachte und sagte zu, denn ich wollte keine Spielverderberin sein.
Dann fragte ich: »Wer ist die bildhübsche Frau, mit der Sie … hicks … Bergwandern. Ich glaube, ich habe einen Schwips.«
Yim lächelte verständnisvoll. »Ja, Sie haben einen Schwips, und bei der bildhübschen Frau handelt es sich um meine frühere Lebensgefährtin. Sie hieß Martina.«
»Heißt sie heute nicht mehr so?«
»Na ja, sie ist vor sieben Jahren gestorben.«
Fettnapf, voll rein.
»Das tut mir leid, ich … ich sollte weniger trinken und … Vielleicht sollte ich jetzt lieber gehen.«
»Nein, wieso? Weil Sie etwas über mein Leben erfahren wollten und dabei auf etwas Trauriges gestoßen sind? Machen Sie sich deswegen nicht verrückt.«
»Na schön, ich … ich finde es wirklich anrührend, dass Sie ein Foto von Martinas Grab aufgehängt haben.«
»Ich korrigiere Sie nur ungern, aber Sie liegen daneben. Das ist das Grab meines Großvaters in England. Der Vater meiner Mutter war ein Seemann aus Bristol, der sich quer durch Indochina geschlafen hat. Ich bin sozusagen Madame Butterflys Enkel.«
Daher Yims überwiegend europäisches Aussehen.
»Ihre Mutter hat in physischer Hinsicht allerdings wenig von diesem Seemann«, sagte ich.
»Stimmt. Vermutlich haben bei meiner Mutter die asiatischen Gene gesiegt, während in meinem Fall die europäischen Gene
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