Das Nebelhaus
mit dir, ausgerechnet mit dir? Ich kenne dich ja gar nicht. Ich kann nicht länger bleiben, ich habe mich gerade lächerlich gemacht.«
»Nein, gar nicht.«
Sie stand trotzdem auf und sammelte hektisch ihr Zeug zusammen.
»Geh nicht«, bat er. »Ich fand sie schön, unsere Unterhaltung.«
»Unsere Unterhaltung kommt mir vor wie eine Szene aus einem Film. Wie heißt er noch gleich? Ich bin Deborah Kerr, und du bist Charlton Heston, nein, Burt Lancaster, und dort vorne ist das Meer.«
» Verdammt in alle Ewigkeit «, wusste Timo. Er ergriff ihre Schulter.
»Ja, Verdammt in alle Ewigkeit . Lass mich los, Timo. Ich kann nicht … Ich muss gehen.«
Er zog sie mit sanfter Gewalt neben sich in den Sand. Sie knieten beieinander, Körper an Körper, und er küsste einen Mund, der nach Meer und Tränen schmeckte. Der nach Whisky schmeckte, der wiederum nach Meer und Tränen schmeckte.
Sorgfältig musterte sie sein Gesicht. »Was willst du mir mit diesem Kuss ausdrücken? Dein Beileid? War das ein Kondolenzkuss?«
»Tut mir leid, wenn es so rüberkommt«, sagte er. »Ich dachte … Ich bin nicht gut in solchen Dingen. Ehrlich gesagt, wenn ich keine Tastatur vor mir habe, bin ich komplett unbrauchbar, zärtliche Gefühle auszudrücken.«
Vev berührte ihn. »Wenn es so ist, dann bist du auf eine wunderbare Weise unbrauchbar.«
Sie legte die Hände auf sein Gesicht, seine Brust, seine Hüften und zuletzt auf sein Geschlecht.
Seine und ihre Finger verschränkten sich ineinander, als Timo Vev in den Sand drückte. Sie bewegten sich wie in Zeitlupe, während sie sich küssten, während sie die Badekleider auszogen.
Timo spürte die Sonne auf seinem Rücken. Vevs Bewegungen und seine eigenen waren einander entgegengesetzt. Sie blieben still, schrien stumm. Ihre Lust kam ohne ihre Kehlen aus, ohne ein Wort.
»Wir hatten uns Treue geschworen, Philipp und ich.«
Timo hob und senkte die Schultern. »Tja …«
»Du kommst dir jetzt wohl ein Stück größer vor?«
»Ein kleines Stück, ja, das gebe ich zu.«
Sie lachten. Natürlich waren sie noch immer berauscht von der Leidenschaft, mit der sie sich eben geliebt hatten, so wie man nach dem letzten Schluck Alkohol auch nicht sofort ernüchtert ist, sondern ihn noch eine Weile mit sich herumträgt.
Sie standen auf Vevs kleinem Strand, Genoveva Bay, und sahen hinaus auf das Meer, das ihnen in kleinen Wellen den Sand unter den Füßen wegschwemmte. Es war ein zugleich angenehmes und verunsicherndes Gefühl, den Sog am Rand einer unendlichen, gewaltigen Masse zu spüren, ein Stück Boden unter den Füßen zu verlieren, ihn langsam abzugeben, nie genug von dem Kribbeln bekommen zu können, süchtig danach zu werden …
»Du wirst Philipp nichts davon erzählen, richtig?«, fragte sie. »Das ist nicht deine Art.«
»Wirst du es denn tun?«
Sie schwieg. Über ihnen hatte sich der Himmel zugezogen. Eine triste Wolkendecke hatte das Blau, das Grün zum Erlöschen gebracht.
»Du bist eine seltsame Frau«, sagte er.
»Dann passe ich gut in einen deiner Romane, eine Spinnerin und Trinkerin.« Sie lächelte. »Komm, wir gehen zum Haus zurück. Die anderen werden bald eintreffen.«
Timo wusste an diesem späten Nachmittag nicht, wie es mit Vev und ihm weitergehen würde. War das nun ein One-Afternoon-Stand gewesen oder mehr? Die Gedanken tanzten in seinem Kopf, wechselten von Dirty Dancing zu Walzer zu Lambada zu Trauermarsch und Schwanensee – von allem nur ein paar Takte, dann ging es wieder von vorne los. Was war er für Vev? Was war sie für ihn? War das, was er im Stillen aufsagte, das Alphabet der Liebesqualen?
Auf dem Meer alberten ein paar ungefähr dreizehnjährige Jungs auf einem Schlauchboot herum, und ihm fiel ein, dass er in ihrem Alter gewesen war, als Vev zu unterrichten begonnen hatte. Er hatte keine seiner Lehrerinnen geliebt, auch die hübschen nicht. Aber heute liebte er eine Frau, die damals seine Lehrerin hätte sein können, jene für Französisch. Was für ein merkwürdiger Zufall, dachte er, dass im Französischen – das Vev gerne ins Feld führte – das Wort für Lehrerin dasselbe ist wie für Geliebte: maitresse .
Er hatte eine Maitresse.
Sie hatten das Vogelschutzgebiet soeben verlassen, als er in der Ferne Leonie erblickte, die ihnen entgegenkam.
»Siehst du«, sagte er zu Vev. »Man hat uns gefunden.«
Vev lachte kurz und verächtlich auf. »Leonie würde dich auch dann noch finden, wenn du in einer Umlaufbahn um den Jupiter kreisen
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