Das Nebelhaus
Beisammensein, einer Einkaufsmeile.
Trotzdem kam er sich vor wie ein Verschwörer, vor allem wenn er an die Wand zum Nebenzimmer starrte, wo sich, wie er wusste, Vev befand.
Er hatte soeben das Notebook geöffnet und eine neue Datei erstellt, als jemand an die Tür klopfte.
»Herein.«
Es war Leonie. Sie hatte sich zurechtgemacht mit allem Drum und Dran: Lidschatten, Lippenstift, Puder, Wimperntusche, Gala-Make-up. Ihre Haare waren voluminös aufgesprayt, als ginge sie zu einer Preisverleihung. Der Knoten, den sie in ihr Karohemd gemacht hatte, passte irgendwie nicht zu der übrigen Aufmachung und die Aufmachung nicht zu einem Fahrradausflug.
»Ihr seid noch nicht weg?«, fragte Timo.
»Wir radeln gleich los. Ich habe eben erst erfahren, dass du nicht mitkommst.«
»Mir ist eine Geschichte dazwischengekommen.«
»Wirklich schade. Ich fühle mich unwohl ohne dich.«
»Wieso denn das?«
»Du bist der Einzige, der mir keine Vorwürfe macht. Du weißt schon, wegen der Pistole. Vev ist sowieso gegen mich, und auch Philipp hat mir gehörig den Kopf gewaschen.«
»Stichelt Yasmin etwa auch? Würde ihr nicht ähnlich sehen.«
»Ach, die …« Leonie zuckte mit den Achseln.
»Du siehst das zu schwarz, Leonie. Natürlich sind alle ein bisschen aufgeregt, aber das wird sich geben. Die Pistole stellt keine Gefahr dar, sie ist definitiv nicht im Haus, das wird die Wogen im Laufe des Tages glätten. Du wirst sehen.«
»Du denkst also nicht schlecht von mir?«
»Quatsch.« Sie sah noch immer sehr schutzbedürftig aus, weshalb er sie in den Arm nahm. »Während ihr euren Ausflug macht, rede ich mal mit Vev.«
»Als mein Kämpe, sozusagen?«
Er lachte. »Ja, als dein Krieger.«
»Danke, du bist sehr lieb.«
Nachdem Leonie den Raum verlassen hatte, schob er das riesige Fenster seines Gästezimmers auf und sah ihnen nach, wie sie davonfuhren. Yim schloss sich ihnen an. Clarissa saß in einer Karre, die an Philipps Rad hing, und winkte Timo zu, so wie Kinder es häufig tun, nur mit den Fingern. Auch Leonie winkte, und zwar ganz ähnlich wie Clarissa. Schließlich blieben sie alle noch einmal stehen, um Timo zu grüßen.
Dann war er endlich allein, fast allein. Sein Blick ging zur Wand, die sein Zimmer von Vevs Zimmer trennte.
Zwei Stunden später schmerzten Timos Handgelenke vom unentwegten Tippen. Sie kamen ihm zerbrechlich vor, und gleichzeitig gönnte er ihnen – und sich – den Schmerz, denn dieser bewies ihm, dass er etwas getan hatte. Seite um Seite war entstanden, der leere Raum füllte sich. Der Augenblick, wenn die Figuren für ihn zu leben anfingen, wenn er ihre Vorlieben kannte, ihre Hoffnungen, ihre Verwundungen, dieser Augenblick war stets der größte. Dementsprechend berauscht lehnte er sich auf dem Stuhl zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blies langsam den Atem aus den Lungen. Kaum dass er ein Lachen unterdrücken konnte. Das war wie die Stunde nach gutem Sex.
»Es geht dir gut, wie es aussieht.«
Vev stand mit dem Oberkörper genau vor dem gewaltigen Viereck des geöffneten Fensters, die Landschaft hinter ihr wie auf dem berühmtesten Gemälde Leonardo da Vincis, eine Mona Lisa im ärmellosen schwarzen Shirt.
»So was!«, sagte er. »Ich habe dich gar nicht klopfen hören.«
»Ich habe nicht geklopft.«
»Oh.«
»Ich dachte, du schläfst, weil es so still war.«
»Ich habe geschrieben.«
»Deinem Laster gefrönt. Daher deine gute Laune.«
Sie lachten.
»Ich habe uns etwas zu essen gemacht. Es ist schon nach eins, du musst hungrig sein. Wie wär’s mit einem Picknick? Ich kenne da eine schöne Stelle.«
Ihre Stimme war ein Moderato cantabile, gemäßigt singend.
»Kommen die anderen nicht bald zurück?«, fragte er.
»Nein, das kann dauern. Philipp will sie nach dem Leuchtturm noch ins Gerhart-Hauptmann-Haus führen. Philipp ist kulturversessen, muss auf unseren Reisen jede Landkirche besichtigen, jedes Denkmal ehrfürchtig umrunden … Deshalb glaubt er, andere wollen und müssten das auch. Kurz und gut – sie befinden sich gerade bei einem Nobelpreisträger am Anfang des letzten Jahrhunderts, hundert Jahre entfernt von uns.«
»Das ist weit weg.«
»Oh ja.«
Er schaltete das Notebook aus.
»Picknick?«, fragte sie.
»Picknick«, sagte er.
Die Stelle, von der Vev gesprochen hatte, lag im Vogelschutzgebiet, etwa einen halben Kilometer vom Nebelhaus entfernt. Das Betreten das Areals war verboten, wie der Zaun zu verstehen gab, der mit teils drohenden und teils
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