Das Nebelhaus
sie in der Nähe gewesen sein, als das Unglück passierte.
»Tja, also, ich habe merkwürdige Schreie gehört, aber ich dachte, die kämen von einer Möwe, so hat es jedenfalls geklungen. Ach ja, da war ein seltsamer Mann, recht klein gewachsen, der die Hände in den Taschen einer Segelhose verbarg und mit gesenktem Kopf an mir vorüberging, ohne zu grüßen. Er wirkte fremdländisch …«
»Ich finde«, sagte Timo, »Morrison erweckt nicht den Eindruck, als wäre er vom Baum gefallen oder von einem Hund totgebissen worden. Ich bin kein Fachmann, aber ich sehe nirgendwo Bissspuren, und wenn eine Katze vom Baum fällt, landet sie in der Regel auf den Füßen. Im Übrigen wäre er in den weichen Sand gefallen, und dabei hätte er sich doch nicht den Schädel zertrümmert, oder? So hoch ist die Birke nun auch wieder nicht. Ich …«
»Ich will, dass Morrison sofort begraben wird«, unterbrach Vev. »Hier, an Ort und Stelle, und zwar bevor Clarissa ihn so sieht.«
Es war zu spät. Gerade als Timo auf Vevs Anweisung hin eine Schaufel aus dem Schuppen holte, kam Clarissa aus dem Haus und entdeckte den toten Kater. Sie weinte markerschütternd. Leonie hielt sie lange fest umschlungen, als wäre es ihr eigenes Kind, beruhigte sie mit hundert trockenen Küssen auf den Scheitel und mit der ganzen Enzyklopädie der Tröstungen: Morrison ist jetzt im Himmel, er hatte ein schönes Leben, er würde wollen, dass … er fände es nicht gut, wenn … wir werden ihn nie vergessen, wir malen ihm ein Bild …
Timo hob ein Grab aus, Vev sammelte inzwischen ein paar Gegenstände zusammen, die Morrison gerne gehabt hatte: einen Tennisball, eine Stoffmaus an einer Schnur, ein paar Bröckchen seines Lieblingsfutters … All das gab sie dem toten Kater mit ins Grab, als handele es sich um einen Pharao.
»Mama, er muss ein Kreuz kriegen«, forderte Clarissa. »Und ein Foto muss drauf.«
Vev nickte traurig. Timo umfasste ihre Schulter und zog sie an sich. Wie gerne hätte er sie mit Küssen überschüttet, hätte ihr das halbe Gewicht der Traurigkeit abgenommen und durch Zärtlichkeit ersetzt.
13
Hinter mir war das Grab, und vor mir stand eine betagte Frau. Ich schätzte sie auf achtzig. Weißgraue Haarsträhnen fielen zu beiden Seiten ihres Gesichts bis auf die deutlich hervortretenden Wangenknochen, und um den Mund hatte sich im Laufe der Jahre ein Kranz kleiner Fältchen geflochten, sodass er wie zugenäht aussah.
»Guten Tag.«
»Guten Tag.«
Sie trug ein altmodisches Kleid und darüber eine Kittelschürze, auf der noch die Spuren eines frischen Zwetschgenkuchens klebten. Alles in allem erinnerte das Äußere der Frau mich an die Witwe Bolte.
»Ich wohne dort drüben, wissen Sie? In dem Haus zwischen den Bäumen. Ich habe Sie um das Nebelhaus streunen sehen und dachte, ich sehe mal nach, was Sie hier machen. Man muss vorsichtig sein heutzutage.«
»Da haben Sie recht.« Ich gab ihr die Hand und stellte mich vor.
Sie machte nicht den Eindruck eines argwöhnischen Menschen auf mich, sondern eines einsamen, der reden möchte. Ich hatte sofort ein Bild vor Augen, wie die Frau am Küchenfenster saß, während der Kuchen im Ofen aufging, und sich wie eine Spinne auf jeden stürzte, der sich im Netz ihres Blickfeldes verfing.
»Da liegt eine Katze drin«, erklärte sie ungefragt. »Auf dem Foto erkennt man das nicht mehr, es war ein schwarzer Kater. Er wurde ermordet.«
»Ermordet?«
»Ja, man hat ihm den Schädel zertrümmert, das hat mir Frau Nachtmann am nächsten Tag selbst gesagt. Ich wollte wissen, wer die ganzen komischen Leute in ihrem Haus waren, und da hat sie mir von dem Mord an der Katze erzählt. Und wissen Sie, was sie noch gesagt hat? Dass sie glaubt, dass es die Verrückte war. Nein, ganz so hat sie es nicht ausgedrückt, sie meinte, es sei eine der Frauen gewesen, die zu Gast bei ihr waren. ›Warum?‹, fragte ich. ›Warum soll ein Gast so etwas tun?‹ Da sagte sie: ›Um sich zu rächen.‹ Zwei Tage später hat diese Leonie Dingsda dann um sich geschossen. Haben Sie davon gehört?«
»Ja, das habe ich.«
»Zu meiner Schande muss ich gestehen, ich habe Frau Nachtmann zuerst nicht geglaubt. Es gehört schon eine gehörige Portion Grausamkeit dazu, eine Katze an den Hinterbeinen zu packen und gegen einen Baum zu schleudern, und das alles nur, um jemandem eins auszuwischen. Da muss man schon sehr krank im Kopf sein, schließlich findet man solche Leute ja nicht wie Scheiße im Kuhstall, verzeihen Sie den
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