Das Nebelhaus
auch wandte, um den zentralen Wohnraum, der an die achtzig Quadratmeter groß war, waberte der Nebel hinter dem Glas, aufgewirbelt vom einsetzenden Seewind.
Ich öffnete die Terrassentür und trat einen Schritt in den von Heckenrosen unvollständig eingefriedeten Garten. Keiner hatte sich in den letzten zwei Jahren die Mühe gemacht, die Gartenmöbel vor der Witterung zu schützen. Auf einem der Stühle lagen verstümmelte Holztiere, ausgebleichte Holsteiner Kühe, ein dreibeiniges Pferd und ein Stück entfernt im Sand ein kopfloser Storch. Über mir schrien Möwen. Mir wurde schlagartig kalt, und ich ging wieder ins Haus.
Hinter jeder Ecke erwartete ich die nächste Kreidezeichnung auf dem Boden, dazu kamen der Nebel, die Agonie und der Alpdruck des Ortes, die mir aufs Gemüt drückten. In der Küche schlug mir ein modriger Geruch entgegen. Jemand hatte die Spülmaschine am 5. September 2010 eingeräumt, sie aber nicht mehr ihr Werk tun lassen. Der gusseiserne Schmortopf auf dem Herd war von einer ekelerregenden Kruste überzogen.
Im Badezimmer, einem kleinen Gästebad, lag zersplittertes Glas auf dem Boden. Eine Fensterscheibe war komplett geborsten und notdürftig mit Folie zugeklebt worden.
Vor dem Obergeschoss hatte ich gehörigen Respekt. Ich zögerte auf der ersten Stufe der spiralförmigen Treppe und bekam ein bisschen Platzangst, was mir sonst nie passiert. So eng und steil war die Treppe gar nicht, zwei Leute konnten locker aneinander vorbeigehen, aber sie war zu beiden Seiten bis auf kleine Lichtöffnungen zugemauert, wodurch sie etwas Röhrenartiges hatte. Zweimal wand sie sich um die eigene Achse, und ich war noch immer nicht oben angekommen. Dafür traf ich auf die zweite Markierung, und diese flößte mir einen noch größeren Schrecken ein als die erste.
Sie erstreckte sich über mehrere Stufen. Weil die Spurensicherung einen Toten, der auf einer Treppe liegt, nicht anders mit Kreide nachzeichnen kann, als sowohl die horizontale wie auch die vertikale Stufenfläche zu markieren, wirkte dieser Körper zerrissen, zerfetzt. Seine normale Größe war verzerrt, wie in einem Parabolspiegel. Die Form, auf die ich blickte, hatte fast nichts Menschliches mehr. Arme und Beine, die Schultern, der Kopf – das alles war für mich nur mühsam zu erkennen, und es dauerte eine Zeit lang, bevor ich begriff, in welcher Haltung dieser Körper mitten auf der Treppe zum Liegen gekommen war. Ich war so auf die Dechiffrierung dieses gespenstischen Codes fixiert, dass mir zunächst entging, was mich dafür mit umso größerer Gewalt traf.
An der Wand der Spiraltreppe prangte ein großer Klecks Blut, umgeben von hundert kleineren Klecksen, die nicht alle rot, sondern auch andersfarbig waren, und ein Teil der Flüssigkeiten war zäh die Wand entlang nach unten geflossen.
Ich konnte nicht mehr. Mit einem Satz stürmte ich die Treppe hinunter, eilte hinaus ins Freie und stürzte beinahe auf der Schwelle, auf der auch Frau Nan gestürzt war. Neben einem Strauch spuckte ich die bittere Galle aus, die mir hochkam.
Ich brauchte mehrere Minuten, um mich wieder aufzurichten. Der Dunst hatte sich ein wenig gelichtet, die Welt zeigte erste blasse Konturen: einen stattlichen Baum, zwei entfernt stehende Häuser, die Wogen der Dünen, so friedlich, so trügerisch. Als Philipp Lothringer sein Haus konzipiert hatte, hatte er den Frieden dieser Landschaft einfangen und in das familiäre Heim integrieren wollen. Die interne Welt sollte mit der externen in Kontakt stehen und umgekehrt, sie sollten sich gegenseitig durchdringen. Das Ehepaar und sein Kind blickten zu jeder Tages- und Jahreszeit auf das, was die äußere Welt darbot, das Meer und den Wind, der die Gräser bog, das Birkenwäldchen, das Heidekraut und die Betulichkeit der Hiddenseer. Im Gegenzug saß die Familie auf dem Präsentierteller. Jeder konnte, wenn die Volants nicht zugezogen waren, ins Haus blicken wie in ein Aquarium. Diese Einstellung Philipps zeugte von großem Selbstvertrauen: Seht her, das bin ich, das ist meine Frau, das ist mein Kind, das ist mein Haus, das ist mein Leben, ich muss nichts verstecken.
Aber irgendetwas war gehörig schiefgegangen, und keiner, weder im Inneren noch außerhalb, hatte die Katastrophe kommen sehen, all des Glases zum Trotz.
Ich kehrte zurück in diese Folterkammer, die mich so sehr strapazierte. Noch hatte ich nicht alles gesehen, doch ich musste es sehen, um davon berichten zu können. Also machte ich ein paar Fotos, dann
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