Das Nebelhaus
ging ich ins Obergeschoss. Am oberen Ende der Wendeltreppe angekommen, erstreckte sich ein langer Gang vor mir, links zwei, rechts drei Türen und eine weitere ganz am Ende. Zwei davon standen offen, eine der seitlichen und diejenige am Ende.
Langsam schritt ich voran und warf im Vorbeigehen einen Blick in eines der Gästezimmer. Dort sah ich eine weitere, die dritte Markierung, die allerdings mit grüner Kreide gezogen war. Erschütternd: Leonies totengleicher, tatsächlich aber noch lebender Körper war an der Wand lehnend zusammengesackt und in sitzender Position aufgefunden worden. Daher hatte man ihr Körperprofil nur schemenhaft und zudem grün markiert. Auf den Kieferholzmöbeln und der lavendelblauen Tapete waren Blutspritzer.
Im Raum verteilt waren vereinzelte Fähnchen mit Nummern, die auf sichergestellte Indizienbeweise hinwiesen. Das Bett war zerwühlt. Auf dem Nachttisch stand eine vor zwei Jahren angebrochene Flasche Orangensaft, daneben ein umgekipptes Glas. Gleich daneben ein aufgeschlagenes Buch: Timo Stadtmüllers Der Säufer , die Seiten in der Mitte zerrissen. In der Zimmerecke lag ein Malbuch für Kinder, auch dieses aufgeschlagen. Auf der Doppelseite standen einige in Lila und Grün ausgemalte Pinguine auf einem Felsen, der noch immer des Ausgemaltwerdens harrte.
Zum ersten Mal überhaupt berührte ich einige Gegenstände, wenn auch nur kurz, und sie berührten mich. Das Grauen in mir erweiterte sich um eine tiefe Traurigkeit, wie sie manchmal in Grabgewölben über mich kam.
Die vierte Kreidemarkierung entdeckte ich – und damit hatte ich gerechnet – in dem Zimmer am Ende des Ganges. Der Körper hatte vor dem Fußende des Bettes auf dem Boden gelegen, beide Arme weit von sich gestreckt, die Beine geschlossen, eine Haltung von irgendwie beklemmender Ohnmacht, wie die von Jesus am Kreuz. Kein Blut, nirgendwo. Neben dem Kopf hatte eine Lesebrille gelegen, kenntlich gemacht mit der Nummer vierzehn.
Vier Schüsse waren in jener Nacht gefallen, drei davon hatten unmittelbar getötet, einer hatte Leonie ins Koma geschickt.
Die Markierungen, die Gesten der Körper, das Blut, das Chaos im Wohnbereich, das eingeschlagene Fenster im Gästebad, die Brille, das Malbuch – all diese Pinselstriche des Dramas fotografierte ich sorgfältig, damit ich sie später zu einer Collage zusammenfügen konnte.
Beinahe freute ich mich auf die bevorstehende Arbeit. Einerseits ein dunkles und schreckliches Projekt, entwickelte es andererseits einen immer stärker werdenden Sog, in den ich längst geraten war, als ich ihn bemerkt hatte.
Wie ein Donnerschlag der Hölle fuhr plötzlich ohrenbetäubende Musik mitten in meinen Beschluss. Vom Erdgeschoss dröhnte Beethoven bis zu mir nach oben, Getöse aus der Pastorale, von einer Intensität und Lautstärke, die mich im wahrsten Sinne des Wortes erschütterte. Mein erster Gedanke war: Wer tut so was? Mein zweiter Gedanke war: Ich bin nicht allein, jemand ist ins Haus gekommen, ist unten, wartet auf mich.
Ich kann nicht sagen, dass ich mich beeilte, um nachzusehen, wer es war. Zögerlich wie eine Blinde tapste ich zur Treppe, nahm Stufe um Stufe und schlich über die Markierung hinweg. Versehentlich berührte ich den roten Klecks an der Treppenwand und zog die Hand sofort zurück. Ich schluckte, bekam eine trockene, heiße Kehle. Meine Sinnenschärfe, ohnehin geschliffen von der Aura des Horrorhauses, nahm unheimliche Dimensionen an. Ich meinte sogar, das alte Blut riechen zu können.
Unten angekommen, betrat ich wie in Zeitlupe den Wohnbereich.
Herr Nan stand drei Schritte von mir entfernt, die Hände in den Taschen seiner schmutzigen Segeltuchhose vergraben. Er hatte den Kopf leicht schief gelegt und grinste mich an.
14
September 2010
Nicht weit vom Nebelhaus entfernt stand eine Eibe, ein altes, verkrüppeltes Ding, kaum einen Meter hoch und vom Wind dazu gezwungen, sich nach unten zu entwickeln. Dadurch war eine Art Höhle entstanden, wie dafür geschaffen, dort sich selbst oder einen Gegenstand zu verstecken. Clarissa hatte mal zwei Jungen darin rauchen sehen, die beiden hatten sie mit nervösen Gesten fortgescheucht. Etwas später hatten zwei gut gelaunte Mädchen sich dort geküsst und abwechselnd aus einer Flasche getrunken. In Clarissas Fantasie war die Eibenhöhle ein Ort, wo spannende Dinge passierten, wo Störtebeker seinen Schatz und Ali Baba seine Räuber verborgen hatte.
Clarissa robbte hinein. Es roch nicht besonders gut in der kleinen Höhle,
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