Das Nebelhaus
auf ihre Wangen. Sie meinte, die Musik des Monsuns zu hören, irgendwo dazwischen lachte ein Kind. Frau Nan würde nie erfahren, ob dieses Lachen sechzig Jahre alt oder eben erst geboren worden war.
Sie summte ein Lied, irgendeines, das ihr gerade einfiel, wieder und wieder. Erst als sie spürte, dass sich etwas im Raum hinter ihr verändert hatte, hörte sie damit auf. Sie schloss das Fenster und drehte sich um.
Herr Nan stand in der Tür.
Sie ging zum Küchentisch und steckte die siebenundneunzig Seiten Papier unter ihre Schürze.
»Du hast die Geschichte also aufgeschrieben«, sagte er und funkelte sie böse an. »Nicht genug mit dem, was du im Schuppen treibst. Jetzt schreibst du auch noch Romane.«
»Ich wünschte, es wäre einer. Geh mir aus dem Weg.«
»Gib mir das Geschriebene.«
»Damit du es verbrennst, so wie die alten Fotos! Nein, Viseth, nein. Du hast es immer noch nicht verstanden, oder? Wir sind tot, denk nicht, wir wären noch am Leben. Gestorben sind wir, halb an dem, was wir getan haben, und halb an dem, was wir nicht getan haben. Vierzig Jahre lang waren wir Trockenkräuter, die noch einen Duft ausströmten, obwohl wir längst vom Leben abgeschnitten waren, und haben es nicht mal gemerkt.«
»Sei still.« Er hielt sich die Ohren zu und verzog das Gesicht.
Frau Nan zog ihn an den Händen, damit er ihr weiter zuhörte. »Es muss ein Ende haben, Viseth. Willst du etwa noch zehn, fünfzehn Jahre so weitermachen? Ich will es nicht, ich kann nicht mehr. Ich bin kaputt, ich bin fertig. Ich habe alles versucht, aber es geht nicht. Bei dem Versuch, unsere Schuld zu tilgen, haben wir sie verdoppelt. Wir haben Yim zu jemandem gemacht, der davonläuft, der schweigt, der …«
Er stieß sie mit Gewalt von sich, sodass sie strauchelte. Die Papierbögen fielen ihr aus der Schürze und verteilten sich über den Küchenboden, und Herr Nan machte einen Schritt vorwärts, in der Absicht, sie aufzusammeln.
»Rühr sie nicht an!«, rief sie.
Plötzlich hielt sie die Pistole in der Hand, die sie seit zwei Tagen, seit sie die Waffe unter der Eibe ausgegraben hatte, mit sich herumtrug. Sie dachte tatsächlich daran abzudrücken. Schuss, und Schuss, und Schuss. Der letzte für sie selbst. Vielleicht war es so am besten. Vielleicht musste sie mit Gewalt enden, die Geschichte von Nian und Viseth.
Aber irgendwo in all dem Wahnsinn und in der Schuld glomm noch immer ein Funken Liebe für diesen Mann.
Eigentlich wollten Timo und Yasmin das Nebelhaus in aller Stille verlassen, aber Philipp fing sie an der Garderobe ab.
»Wo wollt ihr denn hin?«
»Och, nur ’n bisschen rumlaufen«, sagte Yasmin.
»Rumlaufen? Habt ihr es noch nicht gesehen?«, fragte Philipp. »Das Wetter wird schlechter. Im Radio haben sie für den Abend einen Sturm angekündigt. Ein Orkantief über Norwegen verlagert sich völlig überraschend nach Südosten, gegen alle Vorhersagen.«
»Und das bedeutet?«, fragte Timo.
»Dass euer letzter Tag bei uns verregnet sein wird. Mit viel Glück läuft der Fährbetrieb morgen Mittag wieder normal, und ihr könnt wie geplant übersetzen. Wahrscheinlicher ist, dass ihr den Sturm morgen noch abwarten müsst.«
»Scheiße«, sagte Yasmin.
»Das kannst du laut sagen«, stimmte Philipp ihr ausnahmsweise zu. »Ich muss morgen unbedingt aufs Festland wegen einer Besprechung mit einem potenziellen Kunden. Da hängen neunzigtausend Euro dran.« Es störte ihn, dass er kein Neunzigtausend-Euro-Mitleid von Timo und Yasmin erhielt, sondern nur eine lapidare Beileidsbekundung. »Für euch ist es natürlich weniger tragisch, ihr fahrt einfach einen Tag später ab, habt ja keine normale Arbeit. Deine Decke mit den Wundersteinen läuft dir nicht weg, Yasmin, und Timo arbeitet auch nur, wann es ihm passt. Meinen Glückwunsch.«
Da keiner von beiden etwas erwiderte, ging Philipp der Zunder aus, um sich an ihnen abzureagieren. Der Termin mit dem Kunden war wirklich wichtig, und die Aussicht, zwei regnerische Tage lang mit seinen ungeliebten Gästen im Haus festzusitzen, ließ sein Gefühlsbarometer gegen null tendieren.
»Wollt ihr etwa immer noch spazieren gehen? Ihr seid ja verrückt. Aber macht, was ihr wollt. Da sind Regenschirme, wenn ihr welche braucht. Wenn’s geht, heil zurückbringen, ja? Frühstück gibt’s in einer Stunde, um halb zehn. Bekommt ihr das hin: Pünktlichkeit?«
Sie gingen hinaus. Der Regen war leicht und störte sie kaum. Timo zog sich die Kapuze seiner Sweatjacke über, Yasmin trotzte
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