Das Nebelhaus
Schuppens noch verborgen.
Wie die Nachbarin es mir Tage zuvor gesagt hatte, verhinderten unterschiedlich große Stellwände den Überblick. Sie bildeten ein Labyrinth, das ich mithilfe der Taschenlampe zu durchqueren versuchte, um zum Eigentlichen vorzudringen, was auch immer dieses Eigentliche war. Vorsichtig schlängelte ich mich an ihnen vorbei. Dann stieß ich mit dem Fuß eine kleine Dose um, und ihr blecherner Lärm ließ mich einen Fluch ausstoßen. Ich ging in die Hocke, um die Dose zur Seite zu schieben, dabei streifte ich eine Stellwand, die zu wackeln begann. Ich griff nach ihr. Als sie wieder ruhig stand, rappelte ich mich auf. Ich stellte die Taschenlampe auf Streulicht, trat einen Schritt zurück – und hielt die Luft an.
18
September 2010
Frau Nan, von ihrer einstündigen Arbeit im Nebelhaus zurückgekehrt, saß reglos an dem kleinen Küchentisch. Vor ihr lagen jene siebenundneunzig Seiten Papier, die sie in der vorherigen Nacht beschrieben hatte. Für die ersten fünfzig Seiten hatte sie etwa fünf Stunden gebraucht, für den Rest noch einmal zwei. Die zweite Hälfte war nicht weniger ungeheuerlich und aufwühlend als die erste, aber als Frau Nan die passende Sprache für den Schmerz und die Scham und die Schuld gefunden hatte, waren die Worte aus ihr herausgeströmt wie aus einer artesischen Quelle. Im Morgengrauen war sie völlig erschöpft gewesen, wenngleich mehr geistig als körperlich, und sie war ins Nebelhaus gegangen, um sich mit Hausarbeit abzulenken.
Siebenundneunzig Seiten, schwer wie ein Testament. Erinnerungen, die sie seit vierzig Jahren im Kopf mit sich herumtrug. Siebenundneunzig Gespenster. Siebenundneunzig Bilder.
Yim kam in die Küche, verschwitzt vom Joggen.
»Geht es dir gut?«, fragte er, als er ihr in die Augen sah.
»Mir geht es gut.«
»Hast du gefrühstückt?«
»Nein, noch nicht.«
»Soll ich dir einen Tee aufbrühen?«
»Bitte.«
Sie verfolgte seine Bewegungen mit einem zärtlichen Blick. Ihn verschwitzt und rege zu sehen tat ihr gut. Es zeigte ihr, dass er sich von seinem Schicksal nicht hatte unterkriegen lassen, anders als Herr Nan und sie selbst, die mit Bleigewichten durchs Leben gegangen waren, bis zu dem Punkt, an dem sie heute waren: der Bewegungslosigkeit.
»Bist du an ihr interessiert?«, fragte sie. »Ich meine die Frau mit den bunten Haaren. Ich habe euch gestern zufällig zusammen gesehen. Es sah aus, als würdest du sie mögen.«
Yim öffnete den Küchenschrank und griff nach der Dose mit den Teeblättern. »Es war nur ein Spaziergang, mehr nicht.«
»Immerhin. Es freut mich, dass du fünf Jahre nach Martina endlich wieder Menschen an dich heranlässt.«
»Ich gehe ein paar Schritte neben einer Frau her, und du siehst bereits drei Enkelkinder.«
Frau Nan nickte. »Eine feste Beziehung wäre gut für dich. Du bist unglücklich.«
»Bitte, Mutter, nicht jetzt.«
Das Teewasser brodelte. Yim gab drei Löffel grüne Teeblätter in die Kanne.
»Fünf Jahre Flucht sind genug, Yim«, sagte Frau Nan. »Glaub mir, mit jedem weiteren Jahr werden dir die Beine schwerer, und am Ende bist du erstarrt.«
Als Yim die Teetasse aus dem Schrank holte, glitt sie ihm aus den Händen und zerbrach auf dem Boden.
Einige Sekunden lang schwiegen Mutter und Sohn. Dann sagte Frau Nan: »Martina hat dich verlassen. Sie hat eure Beziehung beendet, und zwei Wochen später ist sie auf dem Meer gestorben. Ich kann nur ahnen, welche Gedanken und Gefühle dich danach erfüllt haben, vielleicht auch sehr negative. Es muss eine schwere Zeit für dich gewesen sein.«
Er stand mit dem Rücken zu seiner Mutter und sagte energisch: »Ich möchte nicht darüber sprechen.«
Frau Nan erhob sich müde und kehrte die Scherben zusammen. »Das ist unsere Schuld, die meine und die deines Vaters. Wir haben dich nicht zum Sprechen erzogen, sondern zum Schweigen. Wenn wir damals …«
Yim verließ wortlos die Küche, rannte über die Treppe ins Obergeschoss und schlug die Tür hinter sich zu.
Frau Nan erhob sich. Sie stellte den Kehrbesen und die Schaufel voller Scherben auf die Anrichte, goss sich den grünen Tee ein, den ihr Sohn für sie zubereitet hatte, und setzte sich wieder zurück an den Tisch. Dort saß sie eine Weile, die Tasse an den Lippen, und nippte ab und zu am Tee.
Noch einmal stand sie auf, um das Fenster zu öffnen, nachdem sie bemerkt hatte, dass es zu regnen anfing.
Milder Wind strömte ihr ins Gesicht, und ein paar verstreute Tropfen legten sich wie Tränen
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