Das Nebelhaus
Mann, den ich verstehen wollte, versuchte etwas vor mir zu verbergen. Auf dem Boot hatte er mir in Bezug auf Yasmin Germinal gesagt: Das geht dich überhaupt nichts an. Aber das betraf den inneren Verarbeitungsprozess eines Traumas, was ich nachvollziehen konnte.
Hier ging es um etwas anderes, um die Persönlichkeit Nian Nan, die für sich selbst stand, die nicht nur Mutter und Ehefrau, sondern Mensch gewesen war. Vater und Sohn hatten offenbar ihre Hinterlassenschaft weggeschlossen. Schämten die beiden sich ihrer? Oder hatten sie Angst vor ihr, noch über ihren Tod hinaus?
Mir schien der frühe Abend für den Einbruch geeignet. Yim setzte mich am Hafen ab und segelte weiter, um seinem Bekannten das Boot zurückzubringen. Von Vitte aus würde er noch eine Weile brauchen, um nach Neuendorf zu radeln. Er selbst hatte seine Rückkehr für acht Uhr angekündigt, danach wollten wir essen gehen.
Wie ich vom Garten aus erkennen konnte, sah Herr Nan sich im Wohnzimmer einen Vorabendkrimi an. Die Art, wie er das tat, war – wie fast alles, was er machte – unheimlich. Er saß in der Haltung einer Pharaonenstatue auf dem Stuhl, starr und steif, die Hände auf den Oberschenkeln, unbeteiligt an dem Geschehen, das vor ihm ablief. Es wurde geschossen und geschrien, geweint, geflohen und gestorben, und Herr Nan wippte noch nicht einmal mit dem Fuß. Ich beobachtete ihn von draußen durch das Fenster und dachte: Jetzt, Doro! Jetzt gehst du in den Schuppen.
Aber dann klingelte mein Handy – eine Freundin. Ich drückte das Gespräch sofort weg, doch es war zu spät. Herr Nan wandte den Kopf zu mir um, einfach nur den Kopf, ohne dabei den Körper zu bewegen. Ich wich zurück und wusste, dass ich es nicht wagen würde, bei Tageslicht in den Schuppen einzudringen.
Wie geplant ging ich mit Yim essen. Der Kuss, den er mir auf dem Boot gegeben hatte, veränderte zwar nicht die Art, wie wir miteinander sprachen, aber die Art, wie wir uns dabei ansahen. Ich fand, dass sein Lächeln einen erotischen Ausdruck bekam, was mir durchaus gefiel. Allerdings unterließ Yim es, Lektionen aus dem Lehrbuch der Annäherungen anzuwenden: seine Hand kroch nicht über den Tisch zur meinen, er sang keine Lobeshymnen auf meine blauen Augen, und wir bestellten auch nicht ein Dessert mit zwei Löffeln. Eine flüchtige Berührung, als wir uns eine Gute Nacht wünschten, mehr nicht, und das war mir ganz recht. Denn obwohl ich mir – gegen meinen ursprünglichen Willen – wünschte, Yim näherzukommen, hätte mir jede Zärtlichkeit von ihm an diesem Abend wehgetan. Sogar die Schankrechnung hatte ich komplett übernommen, weil es mir das Gefühl gab, ihn wenigstens halbwegs dafür zu entschädigen, dass ich ihn hinterging.
In meinem Zimmer machte ich das Licht aus und wartete bis ein Uhr nachts. Herr Nans Tür war geschlossen, als ich auf Zehenspitzen die Treppe hinunterging. Yim schlief auf dem Sofa, und sein leises Schnaufen entlockte mir inmitten meiner Anspannung ein flüchtiges Wohlgefühl. Wann hatte ich zuletzt einen schlafenden Mann gesehen? Das war eine Weile her.
Aus der Küche holte ich mir die Taschenlampe, die mir schon beim Frühstück aufgefallen war, und schlich ins Freie. Ferne Stimmen drangen von ein paar jungen Leuten herüber, die am Strand um ein Lagerfeuer herumsaßen. Zwar kam ich noch nicht einmal in ihre Nähe, trotzdem ließ ich die Taschenlampe ausgeschaltet, um nicht auf mich aufmerksam zu machen. Der Halbmond war mir Wegbeleuchtung genug. Erst als ich den Schlüssel ins Schloss steckte, brauchte ich Licht.
Er passte. Bis zuletzt war ich mir unsicher gewesen. Herr Nan hatte seinem Sohn also tatsächlich von meiner Visite im Schuppen erzählt, woraufhin Yim das Vorhängeschloss angebracht hatte.
Das Tor knarrte, daher öffnete ich es äußerst langsam. Wieder strömte mir ätzender Gestank entgegen, trotzdem ging ich ein paar Schritte hinein. Die Spinnweben, auf die ich traf, bewiesen mir, dass schon lange kein Mensch mehr den Schuppen betreten hatte. Sollte ich das Deckenlicht anschalten? Das einzige Fenster befand sich auf der vom Haus abgewandten Seite, ich hätte es also riskieren können. Nach einigen Sekunden des Zauderns entschied ich mich dennoch dagegen – durch den Bodenschlitz des Tores würde ein Schimmer nach draußen dringen. Ich nahm in Kauf, dass das schwache, punktierte Licht der Taschenlampe kaum in der Lage war, mir den Weg durch das unübersichtliche Innere zu weisen. So blieb mir auch der Zweck des
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