Das Nebelhaus
anderes, und das war der dritte Grund, weshalb er sich Yasmin gegenüber bedeckt gab: Vev. Er konnte nicht aufhören an sie zu denken. Als er Yasmin gesagt hatte, er habe die halbe Nacht geschrieben, war das nur die halbe Wahrheit gewesen. Er hatte über sich und Vev geschrieben, über ihre Affäre, und als er endlich eingeschlafen war, hatte er von ihr geträumt. In ihrer Nähe bekam er ein gutes Gefühl, Energiestöße pulsierten durch seine Adern. Lachte sie, dann lachte er mit ihr, weinte sie, so weinte er auch, war sie erregt, pochte sein Herz im Hals. So etwas hatte er noch nie erlebt.
Wenn er an die Stunde in der Genoveva Bay dachte, an seine langsamen, rhythmischen Bewegungen, das Eindringen in ihren Körper, ihre stummen Schreie, dann erigierte er aufs Neue. Früher hatte er sich immer nur auf Fantasien einen heruntergeholt, jetzt zum ersten Mal im Gedenken an ein reales Erlebnis, mehr noch, beim Aufschreiben des Erlebnisses. Die Geschichte als Geliebte. Den Sonnenbrand auf dem Rücken, den er sich beim Liebemachen geholt hatte, hätte er am liebsten noch zwei, drei Wochen behalten. Die bevorstehende Abreise jagte ihm Angst ein, wohingegen er den aufziehenden Sturm wie einen Verbündeten begrüßte, versprach er doch weitere vierundzwanzig Stunden in Vevs Gegenwart.
Alles war an diesem Morgen auf den Kopf gestellt. Die beiden einzigen Bilder, die neben Vevs unentwegter Präsenz in seinem Kopf ab und zu Gestalt annahmen und ihm sogar im Traum erschienen, waren seltsamerweise die schläfrigen Hunde auf Yasmins Berliner Decke sowie Frau Nans geschwollene Handgelenke. Er konnte sich nicht erklären, wie diese Dinge zusammenhingen – ob sie überhaupt zusammenhingen –, aber sie wühlten ihn innerlich auf. Im Traum hatten sich die schläfrigen Hunde von einer Sekunde zur nächsten zu bedrohlich knurrenden Bestien verwandelt, die ihn durch die Straßen Berlins verfolgten. Frau Nan hatte ihn mit von Blutergüssen verschandelten Händen zu sich herangewunken und ihm Zuflucht angeboten.
»So, ab hier müssen wir vorsichtig sein«, flüsterte Yasmin und ging in die Hocke. »Der hässliche kleine Mann könnte irgendwo zwischen seinen Blumen herumkreuchen, und Yim könnte Qi Gong oder so was machen. Siehst du jemanden?«
»Ich sehe keinen. Aber selbst wenn wir unbemerkt zum Schuppen kommen – Frau Nan könnte drin sein.«
Sie schlichen sich bis zu dem Verschlag, und Yasmin hielt ein Ohr an die Tür. »Ich höre nichts.«
»Erwartest du, dass sie Schlagzeug spielt, während sie betet?«
»Was ist denn heute mit dir los? An allem nörgelst du herum. Nun sei mal positiv.«
»Wenn du sowieso alles positiv siehst, kann ja nichts passieren, und ich bin überflüssig. Tschüss.«
»Warte. Ich riskier’s. Was kann sie schlimmstenfalls mit mir machen? Als Buddhistin darf sie mir kein Haar krümmen. Es sei denn, sie gehört einer militanten Richtung an, die …«
»Yasmin, tu mir den Gefallen und geh rein, damit wir das hinter uns bringen.«
»Okey-dokey.«
Sie verschwand im Schuppen, während Timo ein paar Schritte von der Tür entfernt wartete. Er wünschte in diesem Moment, er wäre Raucher, weil er die Hände nicht ruhig halten konnte. Es war weniger die Aktion, die ihn nervös machte, als die Tatsache, dass er sinnlos herumlungerte, während Vev vielleicht schon den Frühstückstisch deckte. Er stellte sich vor, wie er ihr dabei half. Er drückte den Hebel des Toasters nach unten, er neigte sich Vev zu, die das Honigglas öffnete, und sie küssten sich die ganze Zeit über, während das Brot röstete. Als es fertig war, schoss es hoch und beendete vorerst das Liebesspiel.
»Verfluchte Scheiße!«, flüsterte Timo. Er hatte in die Unterhose ejakuliert, und zwar auf eine Fantasie hin, was ihn ärgerte.
In diesem Moment kam Yasmin wieder zum Vorschein. Aus dem Dunkel trat sie, von Clematisblüten umgeben, ins Licht und sagte: »Das musst du dir ansehen.«
»Ich bin völlig unreligiös. Gebetsteppiche interessieren mich nicht. Können wir jetzt gehen?«
»Das musst du dir ansehen«, wiederholte Yasmin, und erst jetzt bemerkte er, dass sie erblasst war.
»Was ist denn? Nun sag schon.«
»Es ist … es ist schrecklich.«
Mit einem unguten Gefühl betrat Timo den Schuppen.
Der am Boden liegende Körper ist krampfartig verbogen. Augen und Mund sind weit aufgerissen, etliche Zähne fehlen. Aus der Nase tropft Blut. Dort, wo die spärliche Kleidung aufgerissen ist, zeigen sich Schwären, schwarz verkrustet. Ein
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