Das Nebelhaus
paar frische sind auch darunter. Die Handgelenke sind zerschunden, ebenso die Füße. Wie konnten sie damit überhaupt noch laufen? Auf der Stirn prangt ein Brandmal. Der Tod des Mädchens ist anscheinend bereits eingetreten, aber nicht lange her. Gleich daneben liegt eine alte Frau in schlafender Haltung, den Rücken zum toten Kind gewandt, das ihre Enkelin sein könnte. Die Füße der beiden berühren sich. Der Haarknoten der Greisin ist verrutscht und gibt den Blick auf ein im Schädel klaffendes Loch frei. Sie hat einen Arm von sich gestreckt, wie Schlafende es manchmal tun, um eine Zärtlichkeit zu erweisen. Der Arm ruht auf einem Skelett.
Die Optik der Bildszene ist verschwommen, so als spiegele sie sich in einem Gewässer. Manche Stellen des Gemäldes sind erstaunlich scharf, einer Fotografie ähnlich, andere sind bis nahe zur Unkenntlichkeit zerhackt. Das trifft auf alle Bilder im Schuppen zu. Sie sind labyrinthisch aufgestellt und bilden eine Ausstellung des Schreckens.
Ein Jugendlicher kniet im Schlamm. Er blickt dem Betrachter ängstlich in die Augen. Drei Männer – nur ihre Beine und Hände sind zu sehen – haben den Halbwüchsigen umzingelt und halten ihm Pistolen an den Kopf. Drei Schüsse, das liegt in der Luft, werden in der nächsten Sekunde fallen.
In der Mitte eines Hofes – es könnte sich um einen Schulhof handeln – befindet sich ein Scheiterhaufen aus Büchern, den gerade ein Soldat entzündet. Aus der Mitte des Scheiterhaufens ragen vier Pfähle auf, an die zwei Frauen und zwei Männer gebunden sind. Etliche Kinder bilden das zum Zuschauen genötigte Publikum. Ein kleiner Junge, der weint, wird von einem Uniformierten mit einer Machete bedroht.
Gestalten im Todeskampf. Ihr Alter und Geschlecht ist unbekannt, ihnen hat man Plastiktüten über die Köpfe gezogen. Sie irren mit auf dem Rücken gefesselten Händen umher, auf verschiedene Weise gequält von einer ausgelassenen Soldatenclique, und gehen dem langsamen Erstickungstod entgegen.
19
Ich befand mich inmitten eines dokumentierten Albtraums. Die Bilderszenen waren kaum auszuhalten. Es mussten an die fünfzig sein, die meisten auf Leinwände von hundertachtzig Zentimetern Höhe gemalt, wodurch viele der dargestellten Personen – allesamt Asiaten – Lebensgröße hatten. Durch die spezielle Maltechnik mit den teils gestochen scharfen und teils verschwommenen Parts erhielt jedes Gemälde einerseits eine authentische Unmittelbarkeit, andererseits eine surreale Atmosphäre. Es gab nur Angst und Hass auf diesen Bildern und nicht den kleinsten Trost. Kein Vogel saß auf einem Ast, keine Sonne schien, keine Schale Reis versprach Sättigung. Sogar von den Farben ging Melancholie aus, waren sie doch alle, auch die gelben, grünen und blauen Töne, von einer bleiernen Schwere und Tristesse, so als wäre ihnen Grau beigemischt worden. Leid und Mitleidlosigkeit entströmten den Bildern und griffen auf mich über. Die Täter widerten mich an, den Gequälten hätte ich am liebsten die Hand gereicht und sie in meine Welt geholt, in die warme Sommernacht 2012 auf der Insel Hiddensee, Lichtjahre entfernt vom Kambodscha zwischen 1975 und 1979.
Angeschlagen von schlechten Gefühlen, setzte ich mich auf einen staubigen Barhocker, der mit Farbklecksen übersät war und den Hockern in Yims Restaurant glich. Vielleicht hatte Frau Nan ihn sich einst von ihrem Sohn geborgt, ohne ihm zu sagen, wofür sie ihn brauchte.
Eines war für mich offensichtlich: Wer diese Bilder gemalt hatte, der war selbst dabei gewesen, war Opfer des Regimes – oder war das Regime. Es stand für mich jedoch außer Frage, dass Frau Nan die Malerin gewesen war.
Nach einer Weile, die ich brauchte, um mich zu beruhigen und mich auf den Horror einzustellen, betrachtete ich die Bilder genauer. Beim ersten Hinsehen waren mir die Szenen gewissermaßen entgegengesprungen, und die Intensität hatte mich einige Details übersehen lassen. Nicht auf allen, aber auf den meisten Bildern erkannte ich im Hintergrund die gedrungene Gestalt eines schwarz gekleideten Mannes, eines Zivilisten. Sein Gesicht war nirgendwo zu erkennen. Oft erschien die Gestalt in den unscharfen oder hundertfach gebrochenen Bereichen. Manchmal war sie scharf gezeichnet, dann aber verdeckte etwas oder jemand ihren Kopf. Auf einem der Gemälde hielt der Mann sogar die Hand vors Gesicht wie jemand, der nicht fotografiert werden möchte.
Er gehörte zweifelsfrei zu den Tätern, und zwar in hervorgehobener Position,
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