Das Nebelhaus
der Witterung ohne Hilfsmittel.
Sie hatten sich ungefähr zehn Schritte vom Haus entfernt, als Yasmin rief: »So ein Arschloch! Der führt sich ja auf … Hat der sie noch alle? Redet mit uns wie mit dummen Kindern. Als hätten wir weder Verstand noch irgendwas sonst. Solche Typen, ey, die kotzen mich an. Wie, ihr habt kein Geld? Dann dürft ihr nicht mitreden. Mann, ey. Geld, Geld, Geld, das ist der Maßstab. Und mit jeder zusätzlichen Null tragen sie die Nase ein bisschen höher. Das ist seit zehntausend Jahren so und hat sich nicht geändert. Schafft endlich mal jemand dieses verdammte Geld ab! Das Zeug ist ein super teuflisches Versklavungsmittel, und die Versklavten sind blöd genug, es nicht abzuschaffen, sondern wollen lieber selbst zum Sklavenhalter werden. Das ist ’ne echte Sado-Maso-Beziehung, das Geld und die Menschen.«
Timo zuckte mit den Schultern. Yasmins Politphilosophien interessierten ihn an diesem Tag noch weniger als sonst.
»Weißt du noch«, fuhr Yasmin fort, »wie Philipp damals drauf war? Der hat gegen die Kohl’sche Sozialpolitik demonstriert, wollte den Spitzensteuersatz auf fünfundsiebzig Prozent anheben, die Vermögen besteuern, die Banken verstaatlichen, Umverteilung von oben nach unten … Er war ein kleiner Robespierre, unser Philipp, und recht hatte er. Sieht man ja, Finanzkrise, Hartz vier und so weiter. Ja, und heute? Da macht er einen auf Bonzen. Seht her, ich hab’s geschafft, ich verdiene neunzigtausend Euro mit einem einzigen Gespräch, und ihr müsst für dasselbe Geld neunzig Jahre lang auf einer Decke sitzen und Wundersteine verkaufen. Oder neunzigtausend Buchseiten schreiben. Schon sein Nasenrümpfen, als wir ihm am ersten Tag gesagt haben, was wir so machen! Und diese näselnde Stimme, sobald er über seine Arbeit spricht!«
»Vielleicht interpretierst du zu viel hinein«, wandte Timo ruhig und vorsichtig ein. »So sehr hat er nun auch wieder nicht geprahlt.«
»Ja, von wegen«, erwiderte Yasmin. »Philipp macht das halt subtil. Er sagt nicht: Schaut euch mein tolles Haus an, schaut euch mein tolles Leben an, ich kann dies, ich habe das, und ihr habt es nicht, ätsch. Nee, er führt dich durch seine Bude, die Hände in den Hosentaschen, routinierter Gesichtsausdruck, nonchalanter Tonfall … Er hustet seine Überheblichkeit nicht in die Welt, sondern benutzt den feinen Zerstäuber der Bescheidenheit. Vielmehr jammert er die ganze Zeit: So viel Arbeit, so viele Aufträge, eine Villa auf Mallorca muss ich entwerfen, ein Künstlerhaus in Rom, und eine Großbank bedrängt mich, ein Seminarhotel am Bodensee zu kreieren. Ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht, alle wollen was von mir, und nach New York soll ich auch noch fliegen. Hat was mit der UNO zu tun, herrje, wenn ich nur an den Jetlag denke, und ich soll für ARTE interviewt werden, das muss ich irgendwie dazwischenschieben, passt mir ja gar nicht … Wie du so ruhig bleiben kannst, Timo, echt, das begreif ich nicht.«
Dass Timo sich während des Spaziergangs zum Schuppen zurückhielt, hatte drei Gründe: Erstens ließ Yasmin ihn kaum zu Wort kommen, sie redete für zwei. Zweitens irrte sie sich, wenn sie glaubte, er ertrüge Philipps Gehabe mit stoischer Ruhe. Das war nicht der Fall, aber es ärgerte ihn auf andere Weise als Yasmin, und zwar auf eine, die er ihr nicht auf die Nase binden wollte. Vereinfacht ausgedrückt war er neidisch auf Philipp, vor allem auf dessen Wohlstand. Timo hatte so gut wie kein Geld. Er verkündete zwar stets und überall, dass seine Schriftstellerei ihm das Wichtigste sei und dass er seinen Traumberuf gefunden habe – was auch stimmte. Trotzdem nagte es an ihm, dass er so wenig verdiente, vor allem wenn er es sich in manchen Monaten noch nicht einmal leisten konnte, mit Freunden eine Pizza essen zu gehen.
Yasmin schien es völlig egal zu sein, dass sie gerade so über die Runden kam und die meiste Zeit auf einer Decke herumhockte. Ihm genügte dieser Brosamen nicht, den seine Anstrengungen abwarfen. An schlechten Tagen hielt er sich für gescheitert, für einen Versager. Sein jüngerer Bruder, ein Teppichverkäufer, verdiente weit mehr als er und kam zudem viel in der Welt herum, weil er mit einer hübschen Flugbegleiterin liiert war und ihn die Tickets nur ein Taxigeld kosteten. Timo hatte es gerade mal bis Gran Canaria geschafft. Alles, was er vorzuweisen hatte, waren zwei Bücher, die über die erste Auflage nicht hinausgekommen waren.
Er neidete Philipp jedoch noch etwas
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