Das Nebelhaus
über sein Verhalten nicht hinwegsehen. Ich hätte mir mehr von ihm erwartet. Oder besser gesagt, ich hätte mir von einem Mann, mit dem ich eine intime Beziehung eingehe, mehr erwartet.
Darum reiste ich sofort ab. Nein, nicht nur darum. Ich konnte unmöglich auch nur einen Tag, geschweige denn eine Nacht länger mit Herrn Nan im selben Haus wohnen. Ich wollte einfach nur noch weg.
Ich schrieb einen Zettel, den ich auf das Bett legte. Yim würde ihn erst in einigen Stunden finden, ungefähr um zehn Uhr, wenn ich noch immer nicht aus dem Zimmer gekommen sein würde. Dafür, dass nur vier Worte auf dem Zettel standen, hatte ich lange gebraucht, um ihn zu schreiben: Es tut mir leid. Den kleinen Schlüssel von dem Vorhängeschloss legte ich dazu. Yim würde verstehen.
In aller Stille verließ ich das Haus, der Morgen graute. Am Hafen, inmitten einer Nebelbank, wartete ich auf die erste Fähre. Mein Kopf war voll, mein Körper müde. Aber in diese Erschöpfung hinein schoss ein Gedanke, der mich aufrüttelte: War es Zufall, dass drei Menschen im Nebelhaus umgekommen waren, nur wenige Schritte von einem Massenmörder entfernt? Könnte Herr Nan die Morde von Hiddensee begangen haben?
20
September 2010
Timo betrat in Yasmins Gefolge den Schuppen. Kaum dass er die wackelige Tür hinter sich geschlossen hatte, schaltete er das Licht an. Der niedrige Raum war nun trübe erleuchtet. Ein einziger Blick genügte, um zu erkennen, dass dies kein Gebetsort war. Im Zentrum ein Gewirr von Bildern, manche auf Gestellen, andere auf verschlissenen Decken auf dem unebenen, schmutzigen Boden. Die Eisenregale an den Wänden waren oxidiert und staubig, darin tausend Farbtöpfe, Lösungsmittel und Sprays, wild durcheinander und stinkend, dazwischen abgenutzte Siebe, Spachtel und Schwämme. Die Pinsel, an die hundert mussten es sein, steckten mit den meist unausgewaschenen Borsten nach oben wie Wiesenblumen in großen Kaffeetassen. In einer Ecke hielt sich ein riesiges, rostrot verfärbtes Keramikwaschbecken schräg in der Verankerung. Zwei Wasserhähne, die nicht zum Händewaschen einluden, tropften in unterschiedlichen Abständen.
Der Raum spottete allen Klischees, die man über Ateliers kannte. Wo waren die Lichtfluten, wo die papageibunten Paletten?
»Wie kann man hier nur malen?«, fragte Yasmin.
Timo wusste aus eigener Erfahrung, dass Schöpfung an vielen Orten möglich war, an banalen wie dem Wartezimmer der Arbeitsagentur, an unbelebten wie der nächtlichen Bushaltestelle gegenüber seiner Wohnung, an gefährlichen wie so manchem Stadtviertel oder Park mitten in der Nacht. Warum nicht auch an einem Ort, der unter der Herrschaft des Verfalls stand?
»Vielleicht kann das, was Frau Nan malt, nur an einem solchen Ort entstehen«, antwortete Timo. »Vielleicht ist es ja doch eine Art Gebetsort. Nur anders, als du erwartet hast.«
»Sie muss eine gequälte Seele haben«, sagte Yasmin mit leiser Stimme, der Aussage und der Umgebung angemessen. »Wer etwas derart Grauenhaftes erschafft – das geht doch nur, wenn man krank ist, oder? Wenn ich da an Jonnys wunderschöne Bilder denke …«
»Man kann auch krank sein und Schönes erschaffen. Es kommt auf die Krankheit an, vermute ich mal.«
»Wie meinst du das?«, fragte sie. »Willst du andeuten, dass Jonny nicht richtig im Kopf ist? Oder ich?«
»Ich habe gar nichts angedeutet.«
»Wer’s glaubt!«
»Hör zu, ich habe keine Lust, an diesem Ort mit dir darüber zu diskutieren, wer was im Kopf hat. Wie dem auch sei – vielleicht ist das, was wir hier sehen, nicht die Krankheit, sondern die Medizin.«
»Das ist purer Schwachsinn. Mit solchen Bildern kann man keine Seele heilen, Timo. Daran geht man kaputt. Frau Nan muss mit sich ins Reine kommen. Was sie braucht, ist Harmonie.«
»Und vielleicht einen Joint, ja?«
»Ach, leck mich doch. Mit einem Atheisten und Zyniker kann man über so was nicht reden.«
»Wo ist denn deine Harmonie, du Stechmückenverschonerin, wenn du Philipp am liebsten nach einer Revolution an die Wand stellen würdest?«
»Das habe ich nie gesagt!«
Ihr Streit war wie eine überraschende Woge gekommen und ebbte ebenso schnell wieder ab. Die Bilder machten aggressiv. Sie trugen das älteste Gift der Welt in sich, die kaputte Vergangenheit, und sowohl Yasmin als auch Timo waren empfänglich für dieses Gift.
»Ich will hier raus«, sagte Yasmin.
Timo hatte nichts dagegen. Als sie sich umwandten, schälte sich plötzlich aus einer vom Licht nicht
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