Das Nebelhaus
denn er war oft mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger dargestellt. Noch überraschter war ich, als mir die Frau auffiel, die auf so gut wie allen Bildern in seiner Nähe stand. Sie war ebenfalls schwarz und schlicht gekleidet, ungefähr dreißig Jahre alt, recht klein … Ihr Gesicht war immer scharf konturiert, wenngleich es in der Masse unterging. Ich kannte dieses Gesicht. Frau Nan hatte sich selbst an den Ort des Geschehens gemalt, und sie hatte sich zu den Mördern gestellt.
Ich erinnere mich beim besten Willen nicht mehr an alles, was mir in jenem Moment der Erkenntnis durch Kopf und Herz ging. Ich weiß allerdings noch, dass ich befremdet und enttäuscht war. Enttäuscht von der Frau, der ich in den letzten Tagen nähergekommen war, obwohl ich sie nie kennengelernt hatte. Von der Frau, die ich trotz ihrer spröden Ausstrahlung angefangen hatte zu mögen, vielleicht auch und gerade, weil ich ihren Mann nicht leiden konnte. Auch von mir war ich befremdet, aus denselben Gründen: Ich hatte mich auf eine Genossin der Roten Khmer eingelassen. Der Mann, dessen Gesicht verborgen blieb, schien mir eine führende Rolle zu spielen, wohingegen Frau Nan nur als Beobachterin in Erscheinung trat. Dennoch, ihr Gesicht zeigte nicht die geringste Ergriffenheit.
Der Schuppen, in dem ich ratlos und entsetzt auf einem Barhocker saß – war er gleichsam ihr Beichtstuhl gewesen, ihre Psychiater-Couch? Hatte sie gemalt, um die quälenden Bilder aus dem Kopf zu verbannen? Hatte sie einfach nur besser verstehen wollen? Hatte sie sich selbst angeklagt und verurteilt? Verurteilt zur tagtäglichen Begegnung mit den Opfern? Hatte sie den Ermordeten eine Stimme geben wollen?
Vielleicht alles zusammen, vielleicht nichts davon. Wie konnte ich es wissen? Nur eines resümierte ich: Frau Nan hatte die Kraft gefunden, sich zu stellen, und sei es nur ihrem eigenen Gewissen. Sie hatte nach einer Sprache gesucht und sie erlernt, nachdem sie diese gefunden hatte. Ob sie auch die Kraft gefunden hätte, damit vor die Welt zu treten?
Erst als die Taschenlampe mir ihren Dienst versagte, bemerkte ich, wie lange ich mich schon im Schuppen befand. Es war drei Uhr durch. Ich musste mich im Dunkeln nach draußen tasten, mitten durch das Labyrinth der apokalyptischen Gemälde. Der Gang schien mir eine Ewigkeit zu dauern, und obwohl ich normalerweise nicht unter Platzangst leide, erlebte ich Sekunden der Panik, in denen ich die ganze Galerie am liebsten umgeworfen hätte, nur um schneller ins Freie zu kommen. Ich konnte mich gerade noch beherrschen. Als ich es geschafft und die Tür verschlossen hatte, sank ich langsam an ihr zu Boden. Dort saß ich eine Weile, atmete tief durch und traf eine Entscheidung.
Als ich zurück ins Haus kam, war alles ruhig. Yim schlief tief und fest. Er hatte sich auf dem Sofa garnelenförmig zusammengerollt und die Decke von sich gestoßen. Außer einer hellblauen Boxershorts trug er nichts, wie mir das spärliche Mondlicht enthüllte, das durch das Fenster hereinströmte.
Ich machte mir klar, welchen Einfluss das, was ich gerade entdeckt hatte, auf unser Verhältnis haben würde. Yim war Jahrgang 1972, demnach war er drei Jahre alt gewesen, als die Roten Khmer mit ihrem Terror begannen, und sieben Jahre alt, als die Vietnamesen deren Herrschaft beendeten und viele Protagonisten des Terrorregimes untertauchten. Er hatte mit den Gräueln nichts zu tun, und vor einem Kind in diesem Alter kann man mit ein bisschen Anstrengung das Ärgste verbergen, sodass es kaum mitbekommt, was um es herum geschieht. Das alles hielt ich Yim zugute. Aber er hatte mich im Hinblick auf sein Eintreffen in Deutschland angelogen, so wie er vermutlich alle Leute täuschte.
Er war nicht schon 1975 in die DDR gekommen, sondern erst 1979, und er konnte mir nicht erzählen, dass er das nicht gewusst hätte. Ein Fünf- oder Sechsjähriger versteht sehr wohl, ob er im tropischen Klima neben Reisfeldern und dem Dschungel aufwächst oder ob er in Europa Schneemänner baut. Keines der Fotos an der Wand seines Jugendzimmers zeigte ihn zwischen dem fünften und siebten Lebensjahr, denn das war die verbotene Zeit. Seine Eltern hatten ihn zum Schweigen angehalten, und entweder hatten sie ihn irgendwann eingeweiht, oder er hatte sich irgendwann selbst zusammenreimt, was das alles zu bedeuten hatte. So oder so, er war zum Mitwisser geworden.
Ich wollte ihn dafür nicht an den Pranger stellen – es waren immerhin seine Eltern, die er deckte. Trotzdem konnte ich
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