Das Nebelhaus
erfassten Ecke des Schuppens der Umriss eines Menschen.
»Verdammt«, flüsterte Yasmin.
Timo trat einen Schritt nach vorne, um sie im Ernstfall zu schützen.
Als Leonie in die Küche kam, hielt Vev gerade Philipp den zerschnittenen Morgenrock unter die Nase, und das Gespräch geriet augenblicklich ins Stocken. Leonie widmete weder dem Morgenrock noch seiner Besitzerin einen zweiten Blick.
»Guten Morgen. Könnte ich ein Glas Wasser haben, Philipp?«
»Guten Morgen. Nimm dir, was du brauchst«, antwortete er und deutete auf den Kühlschrank und das Regal mit den Gläsern.
Während sie sich bediente, schwiegen Vev und Philipp, aber Leonie bemerkte, dass die beiden sich hinter ihrem Rücken mit Zeichensprache verständigten, wobei sie sich nicht einig wurden.
»Sag mal«, fragte Vev, »hast du eine Ahnung, was mit meinem Morgenrock passiert ist, der im Bad hing?«
»Herrje, der sieht ja übel aus«, sagte Leonie. »Ist er gerissen, als du ihn das erste Mal seit langer Zeit angezogen hast?«
»Er ist keineswegs gerissen. Man kann die winzigen Zacken einer Schere deutlich erkennen.«
»Ja, tatsächlich, jetzt sehe ich es auch. Na ja, kleine Kinder denken sich oft nichts dabei, bestrafe Clarissa nicht zu hart.«
»Ich denke nicht, dass Clarissa dafür verantwortlich ist. So etwas hat sie noch nie gemacht.«
»Glaub mir, Kinder sind für allerlei Überraschungen gut. Aber wer weiß, vielleicht hast du recht. Mag sein, dass Yasmin nicht gepasst hat, dass bitterarme, pestizidverseuchte Kinder in Bangladesch den Morgenmantel hergestellt haben, die neunzehn Stunden am Tag …«
»Du weißt also nichts darüber?«
Leonie holte das erste Lexotanil des Tages aus der Handtasche, wobei sie sich Zeit ließ, es zu finden. »Nö«, sagte sie. »Nur, weil ich ein Kleidungsstück hässlich finde, verschnippele ich es nicht.«
Die beiden Frauen standen sich gegenüber. Vev knüllte den seidenen Morgenrock zu einer schwarzen Kugel zusammen, Leonie spielte mit der Tablette. Ein paar Sekunden später schluckte sie sie.
Die Stille, die entstanden war, nutzte Philipp, um das Zwiegespräch, das leicht zu einem Streitgespräch werden konnte, zu unterbrechen.
Er räusperte sich. »Leonie, deine … deine Mutter hat vorhin hier angerufen, ich habe mit ihr gesprochen. Eigentlich wollte sie nicht, dass ich …«
»Das ist doch nicht zu fassen«, rief Leonie und donnerte ihre Tasche auf die Küchenanrichte. »Was fällt der Frau eigentlich ein, mir nachzuspionieren?«
»So war das nicht«, sagte Philipp. »Sie hat kaum Fragen gestellt, sie wollte nur wissen, ob es dir gutgeht. Vielleicht hat sie von dem Sturm gehört, der in unsere Richtung zieht. Ach, davon weißt du ja noch gar nichts. Also, wir erwarten über Nacht einen Sturm. Die Handynetze werden vorübergehend zusammenbrechen, und da hat sie wahrscheinlich …«
»Ach, papperlapapp. Du kennst sie nicht. Menschen lästig zu fallen ist ihre Passion. Leider kann man Mütter nicht abbestellen wie ein Abo, sonst hätte ich es mit meiner längst getan.«
»Aber es war wirklich ein nettes Gespräch, sie hat einfach nur besorgt geklungen.«
»Na, dann kannst du sie ja beruhigen, wenn du dich so gut mit ihr verstehst. Lass dich doch gleich von ihr adoptieren. Wahrscheinlich würde sie es sogar tun. Du wärst genau der Sohn, den sie sich immer gewünscht hat – erfolgreich, Frau und Kind, gegenseitige Einladungen zum Käsekuchenessen …«
»Leonie, ich …«
»Ja, ja. Können wir bitte über etwas anderes sprechen. Habt ihr Timo gesehen? In seinem Zimmer ist er nicht. Ich möchte mit ihm reden.«
Vev antwortete: »Er aber vermutlich nicht mit dir, jedenfalls nicht in der Verfassung, in der du gerade bist.«
»Diese Wahl wollen wir mal besser ihm überlassen, liebe Vev«, antwortete Leonie süßlich.
»Hat er denn die Wahl?«
Leonie schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, schrie sie mit aller Kraft: »Wo ist Timo? Ich will es wissen, jetzt!«
Für drei Sekunden waren Vev und Philipp wie versteinert, und Leonie starrte sie mit unnatürlich weit aufgerissenen Augen an. Durch das gekippte Fenster wehte ein frischer Luftzug herein, ein erster Vorbote des Sturmes. Er trug ein Kinderlied mit sich, das Clarissa sang.
Vev hatte es völlig die Sprache verschlagen. Philipp sagte schließlich, und zwar im mildesten Ton, zu dem er fähig war: »Timo ist mit Yasmin spazieren gegangen. Ich weiß nicht wohin.«
Leonie schnappte ihre Tasche und verließ die Küche. Sie stürmte
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