Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Berg
Vom Netzwerk:
hatte wie eine Idiotin das Gewicht unentwegt von einem Bein auf das andere verlagert, fast eine Stunde lang. Nun wandte sie sich Timo zu, und es war, als hätte sie Fesseln gesprengt. Ein paar Sekunden lang lächelte sie befreit.
    »Es musste aufgeschrieben und gelesen werden«, sagte sie. »Bilder sind bloß Augenblicke, sie lassen so viel im Unklaren. Endlich weiß jemand, was ich weiß.«
    »Aber Ihr Mann …«
    »Mit meinem Mann zu reden ist wie ein Selbstgespräch, wenn man taub ist.«
    »Und Yim?«
    »Könnten Sie Ihrem Kind sagen, dass Sie Tausende von Menschen umgebracht haben?«
    » Sie haben niemanden umgebracht.«
    »Lassen Sie das. Verteidigen Sie mich nicht. Ich habe gequälte Blicke mit kalten beantwortet, ich habe Hände ausgeschlagen, die sich mir hilfesuchend entgegenstreckten, ich habe mit den Mördern gefeiert. Das ist so, als hätte ich selbst gequält und gemordet. Jahre später habe ich Gedichte geschrieben, schöne, harmlose Verse über den Zauber Kambodschas. Diese Gedichte waren wie die Blumen, die mein Mann hegt – sie sollten das Abscheuliche, das wir getan haben, vor uns selbst verbergen. Zehntausend Tage lang habe ich die Wahrheit für mich behalten, und es ist ein Wunder, dass sie auf diesem langen Weg nicht verloren gegangen ist, denn das ist das Schicksal vieler unliebsamer Wahrheiten. Inzwischen ist sie so alt und hässlich, dass mein Sohn sie nicht mehr haben will. Ich kann es ihm nicht verübeln.«
    Timo ließ eine Weile verstreichen, in der er versuchte zu verstehen.
    »Sie haben mir noch nicht gesagt, warum Sie ausgerechnet mich eingeweiht haben.«
    »Sie schreiben. Und Sie sind hierhergekommen, in den Schuppen, genau an dem Tag, an dem ich alles aufgeschrieben habe, genau zu der Stunde, als ich mich entschlossen hatte, das Schweigen zu brechen.«
    »Das war Zufall.«
    »Das ist Vorsehung.«
    »Ich glaube nicht an Vorsehung.«
    »Darauf kommt es nicht an. Ich habe mich all die Jahre hierher zurückgezogen, um meinem Mann aus dem Weg zu gehen. Ich wollte allein sein. Weinen. Dann war da auf einmal diese Frau …«
    »Yasmin.«
    »Ich habe mich still verhalten, weil ich nicht wollte, dass sie mich so sieht, so … verzweifelt. Dann kamen Sie, und ich hörte Sie sagen, dass mein Schuppen ein Gebetsort sei, ein Beichtraum, und mein Malen eine Medizin. Da spürte ich etwas. Ich kann es Ihnen nicht erklären. Unsere Wege haben sich nicht grundlos gekreuzt. Es sollte so sein.«
    Timo schüttelte den Kopf. »Und nun? Was fange ich mit Ihrer Beichte an?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Soll ich alles für mich behalten? Soll ich Ihren Text an eine Zeitung schicken? Soll ich ihn Yim geben? Erwarten Sie, dass ich ein Buch daraus mache?«
    »Ich erwarte gar nichts. Ich kann Ihnen nicht helfen.«
    »Wissen Sie eigentlich, was Sie mir damit aufladen?«
    Ein letztes Mal in ihrem Leben, das nur noch wenige Stunden dauern sollte, lächelte Frau Nan, diesmal jedoch mit einem bitteren Zug. »Wer«, sagte sie, »wüsste das besser als ich?«
    Als Timo sich wenige Minuten später an der Tür des Schuppens von Frau Nan verabschiedete und mit siebenundneunzig Seiten Papier in Händen in Richtung des Nebelhauses davonging, beobachtete ihn jemand. Herr Nan stand hinter einem Baum, dessen Krone die ersten Windstöße des aufziehenden Sturms schüttelten.
    Nur einen Steinwurf von ihm entfernt, am Fenster eines Zimmers im ersten Stock, sah Yim, was auch sein Vater sah.

21
    Ich fand sie am Wittenbergplatz, neben dem KaDeWe. Sie saßen auf einer Collage aus verschlissenen Decken: vier Männer, drei Frauen und drei Hunde. Obwohl solche Sit-ins auf öffentlichen Plätzen nicht mein Ding waren, sah ich ihnen an diesem heißen Mittag eine Weile zu, wie sie schwatzten, lachten, sich auf die Schippe nahmen oder einfach nur schwiegen und dösten. Was war es, das sie mir sympathisch machte? Das schattige Plätzchen und das Laissez-faire des Miteinanders? Sie kannten keine Pflicht und keine Pflichtverletzung, keinen Termindruck, auch was gestern war und morgen sein würde, bekümmerte sie nicht. Sie schliefen gedankenlos ein, standen schwerelos auf und gingen ohne Erwartungen durch den Tag. So jedenfalls stellte ich mir ihr Leben vor.
    Ich hatte noch nie zu den Menschen gehört, für die das Gras auf der anderen Seite des Zaunes grüner ist, egal auf welcher Seite sie stehen. Ich hatte eine Arbeit, die mich forderte. Die Leser mochten meine Artikel, attestierten ihnen analytische Schärfe und empathische Einfühlung.

Weitere Kostenlose Bücher