Das Nebelhaus
er.
»Nein.«
»Bulle?«
»Ich bin Journalistin.«
»Die Bullen machen das, was sie machen, um sich an der Macht aufzugeilen, die sie haben. Journalisten machen ihren Kram für die Auflage, für Geld, und das ist noch viel dreckiger.«
Ich blieb gelassen. »Dann sind die fünf Euro, die du gerade von mir verlangt hast, also dreckig?«
»In einem ungerechten System kann man nicht gerecht leben, auch wenn man es noch so sehr versucht. Man ist automatisch Teil davon. Sartre hat das gesagt, und er hatte recht.«
»Du hast studiert?«
»Philosophie und Geschichte. Weißt du, was man ist, wenn man das studiert hat?«
»Magister, nehme ich an.«
»Falsch. Angeschissen ist man. Als Wirtschaftsfuzzi hast du mir nix, dir nix eine Arbeit. Für Philosophen und Historiker gibt es keinen Platz in dieser geldgeilen Welt, außer du leckst ein paar Ärsche, und auch dann wird’s schwer.«
»Ich könnte mich mal umhören.«
»Ich will dein Mitleid nicht, falls es überhaupt Mitleid ist. Wahrscheinlich schleimst du dich bloß ein, um mich über Yasmin auszuhorchen. Vergiss es. Das funktioniert nicht. Lass mich in Ruhe«, rief er, sodass sich die Passanten nach ihm und mir umdrehten. »Verpiss dich. Nimm dein Scheißgeld, und hau ab, du blöde Kuh.«
Auch seine Freunde auf der Decke schüttelten über so viel verbale Aggressivität den Kopf. Ihren Blicken entnahm ich, dass er sogar ihnen, für die Unauffälligkeit keinen Wert darstellte, peinlich war.
»Bist du noch mit Yasmin zusammen? Kannst du ihr bitte ausrichten, dass ich mit ihr reden will? Und wenn ich reden sage, dann meine ich nicht interviewen. Ich …«
»Ich spreche nicht mehr mit dir. Verzieh dich. Hier, nimm!« Er leerte den Inhalt des Pappbechers auf meiner Aura aus.
Der Fünfer und ein paar Silbermünzen lagen auf einer dreifarbigen Acht, die mir nicht das Geringste sagte. Ich ließ das Geld liegen und stand auf. Jonny saugte so lange an der Mündung der Weinflasche, bis ich den Anblick nicht mehr ertrug. Obwohl er mich angepöbelt hatte, hätte ich gerne etwas für ihn getan, wusste aber nicht was.
Als ich die paar Schritte zu den Leuten auf der Decke ging, um sie nach Yasmin zu fragen, fiel mein Blick auf eine Frau meines Alters, die schon die ganze Zeit über in der Tür des Esoterikladens stand, vor dem die Gruppe ihr Lager aufgeschlagen hatte. Mit einer dezenten Kopfbewegung winkte sie mich zu sich.
Im Rückgriff auf Klischees hätte ich bei einer Esoterikerin eine aufgesetzt magische Ausstrahlung erwartet, wie bei einer Wahrsagerin: extravagante Kleidung, allerlei Symbole und so weiter. Karin – so stellte sie sich vor – sah aus wie du und ich. Ihre Schlichtheit wirkte wohltuend auf mich, ganz im Gegensatz zu ihrem Laden. Schon das Gepränge einer einzigen Weltreligion hätte mich beunruhigt, aber in dem geschätzt zwanzig Quadratmeter großen Verkaufsraum stapelten sich die Attribute von fünf Weltreligionen, mindestens drei untergegangenen Kulturen, mehrerer Heil- und Entspannungstechniken, Mystiken, der Symbolik der Naturvölker und einiges mehr. Montezuma meets Hildegard von Bingen.
»Er war nicht immer so«, sagte Karin mit einem Blick auf Jonny, der inzwischen auf meiner Aura saß und stumpf vor sich hin brütete. »Noch vor zwei Jahren hat er kaum etwas getrunken. Er hat auch keine Auren gemalt, sondern Einhörner im Wald bei Mondschein. Allerdings war Yasmin da noch seine Co-Malerin.«
»Die beiden sind nicht mehr zusammen?«
»Eigentlich nicht. Na ja, so kann man das nicht sagen. Die beiden sehen sich schon noch, aber sie sind nicht mehr dieselben wie damals. Sie haben sich verändert – in gewisser Weise. Yasmin hat sich zurückgezogen, ich sehe sie nur noch selten. Manchmal kommt sie vorbei, unterhält sich ein paar Minuten mit mir, redet kurz mit der Gruppe draußen und geht wieder. Mir tut es weh, sie so zu sehen, so … desinteressiert und heruntergekommen. Man kann sie mit nichts mehr erreichen, aus sich rauslocken. Für mich ist das besonders schlimm. Ich kenne sie jetzt seit mehr als zehn Jahren sehr gut, auch wenn ich nie zu ihrer Sit-in-Gruppe gehört habe. Sie war eine meiner besten Freundinnen. Dazu kommt, dass ich ihr den Laden verdanke.«
»Oh. Inwiefern?«
»Die Vorbesitzerin wollte ihn aufgeben. Ich hätte ihn gerne übernommen, hatte aber die Abstandssumme von fünfundzwanzigtausend Euro nicht. Yasmin hat mir das Geld gegeben, einfach so, geschenkt. Das war nur zwei oder drei Monate nach – Sie wissen schon –
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