Das Nebelhaus
erstens, zweitens, drittens nicht mehr, es nervt mich zu Tode. Das hier ist ein zerfetzter Morgenrock. Ich glaube, dass Leonie ihn absichtlich zerfetzt hat, und deine Antwort darauf ist ein Dia-Abend.«
»Ich will doch nur … Ich will einfach nicht, dass die Nachbarn über uns klatschen, und wenn wir Gäste vor die Tür setzen, ist das unvermeidlich.«
»Aber wir verstehen uns nicht. Wir! Verstehen Uns! Nicht! Es ist ja nicht so, als würdest du eine gute Freundin rauswerfen. Du kennst diese Frau im Grunde überhaupt nicht. Wir haben sie freundlich aufgenommen, und sie hat sich aufgeführt wie eine Diktatorengattin. Sie muss gehen. Wenn du nicht mit ihr redest, dann tu ich’s.«
»Vev.«
»Und zwar beim Frühstück.«
»Oh Gott. Nein, ich rede mit ihr, aber erst nach dem Frühstück, ja? Unter vier Augen. Ein Rauswurf, während die anderen dabei sind, das ist aus pädagogischer Sicht eine Katastrophe und endet nur in einer Riesendiskussion.«
Vev verdrehte die Augen, gab aber nach. »Meinetwegen. Nachher rufe ich bei den Nans an. Du wirst sehen, wir tun genau das Richtige.«
Frau Nans Schatten schritt ihr voraus. Im trüben fahlgelben Licht des Schuppens näherte er sich Timo und Yasmin durch das Labyrinth der Gemälde. Sie ging gebeugt, sah zu Boden, sodass die beiden ihr Gesicht nicht richtig erkennen konnten. Die Arme waren vor der Brust verschränkt, und ihre rechte Hand steckte unter der aufgeknöpften Weste, wo sie an irgendetwas herumfingerte.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Timo beunruhigt. »Es gibt keine Rechtfertigung für das, was wir getan haben – außer vielleicht, dass wir große Bewunderer Ihrer Religion sind. Wir haben geglaubt …«
Plötzlich hob sie den Kopf, was Timo sofort zum Verstummen brachte. Frau Nan hatte stark gerötete Augen, ihre Lider waren schwer, die Nase tropfte. Als sie den Mund öffnete, zitterten ihre Lippen.
Sie blickte Yasmin nur kurz an. »Bitte gehen Sie hinaus«, sagte sie leise. Und an Timo gewandt: »Ich möchte mit Ihnen allein sprechen.«
Timo erklärte sich mit einem Nicken einverstanden, und einige Sekunden später waren er und Frau Nan miteinander allein. Sie blieb in unveränderter Haltung stehen, so als wolle sie sich erst davon überzeugen, dass Yasmin nicht doch noch einmal zurückkam.
»Setzen Sie sich auf den Hocker da«, sagte sie. »Ja, den Barhocker.«
Als Timo darauf wartete, dass Frau Nan das Wort an ihn richtete, erschienen ihm seine Situation und der Raum immer unwirklicher. Dieses Gefühl war ein alter Vertrauter, der sich schon lange nicht mehr hatte blicken lassen. Auch damals, vor fünfzehn, sechzehn Jahren war Timo in fremdes Eigentum eingebrochen, und wie damals war er dabei an ihm irreal erscheinende Orte geraten: eine Fabrik, die fast ohne Menschen auskommt und in der Maschinen, hoch wie dreistöckige Häuser, ihr ruheloses Werk tun; eine riesige Halle voll von Tieren, Sklaven, die nie die Sonne sehen sollten; ein Entladehof mit dreißig Trucks, jeder mit neunzig Rindern beladen, ein gewaltiger Chor, der im Mondlicht seinen eigenen Begräbnisgesang anstimmt. Auf die Grausamkeit, die sich hinter manch schöner Fassade befand, war Timo vorbereitet gewesen, nicht jedoch auf die irritierende Schönheit in mancher Grausamkeit.
Nach Jahren befand er sich nun wieder an einem solch unwirklichen und irritierenden, düsteren und faszinierenden Ort, umgeben von Bildern, die die Hölle darstellten. Dennoch waren manche davon so schön, dass man sich nicht traute, es laut zu sagen. Wie jenes direkt vor ihm, das Reisfelder zeigte, so weit wie das Auge reichte, bis zum Horizont, auf den der rote Sonnenball sich niederlegte. Erst beim zweiten Hinsehen bemerkte man die Aufseher mit den Maschinenpistolen, die die Bauern zum Arbeiten anhielten, und die paar Toten zwischen den aus dem Wasser ragenden Pflanzen.
Frau Nan fuchtelte unter ihrer Weste herum, unentschlossen, ob sie die Hand hervorziehen sollte oder nicht. Erst nach einer Minute rang sie sich dazu durch. Sie drückte ihm einen Stapel Papierbögen in die Hand.
»Lesen Sie das.«
»Ich … verstehe nicht. Was ist das?«
»Sie werden verstehen. Lesen Sie es jetzt. Hier.«
»Falls Sie ein Buch geschrieben haben, ich bin kein Lektor. Ich kann Ihnen kein …«
»Sie sollen es lesen.«
Ihr Tonfall war unhöflich, fordernd, aber nach einem weiteren Blick in Frau Nans gerötete Augen fügte sich Timo.
Die Texte drehten sich um das Lager 17, geleitet von Bruder Viseth Nan, errichtet
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