Das Nebelhaus
Ich bekam ausreichend Aufträge. Ein Universum lag zwischen diesen Leuten auf der Decke und mir. Davon abgesehen wäre es völlig naiv gewesen zu glauben, dass sie keine Nöte hätten, finanzielle zum Beispiel. Trotz allem ertappte ich mich dabei, wie ich mir wünschte, ein Jahr lang – nun ja, wenn schon nicht ihr Leben zu führen, so doch ihren freien Kopf und ihr leichtes Herz zu haben.
Ich konnte nachvollziehen – ohne es für richtig oder falsch zu befinden –, was Yasmin Germinal damals auf die Decke hier auf dem Wittenbergplatz verschlagen hatte. Zu meiner Enttäuschung war sie an jenem Tag jedoch nicht dort. Ich hatte großen Aufwand betrieben und eigens einen Kontaktmann bei der Polizei kontaktiert, dem ich nun einen Gefallen schuldete. Er hatte mir zwar nicht Yasmins Adresse geben wollen, aber sein schlauer Computer hatte die Information ausgespuckt, dass Yasmin vor einigen Jahren – vor den Ereignissen von Hiddensee – des Öfteren mit dem Ordnungsamt und der Polizei in Konflikt gekommen war. Sie und einige ihrer Freunde hatten sich immer mal wieder geweigert, mit ihrer Decke umzuziehen. Zwei Namen tauchten in diesem Zusammenhang mehrfach auf: Yasmin Germinal und Jonny Hartmann. In einem Fall war wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt gegen die beiden ermittelt worden, aber das überlastete Gericht hatte die Klage wegen Geringfügigkeit abgewiesen. Alle Vorfälle hatten sich rund um den Wittenbergplatz abgespielt.
Ich hatte nun zwar Leute auf einer Decke gefunden, aber keine Yasmin. Waren das überhaupt ihre Freunde? Und wenn, würden sie mir weiterhelfen? Meine Möglichkeiten, Yasmin aufzuspüren, waren ausgeschöpft, und der Wittenbergplatz konnte zur vorzeitigen Endstation meiner Spurensuche werden. Ich wollte es nicht vermasseln, also überlegte ich, wie ich vorgehen sollte.
Mein Kontaktmann bei der Polizei hatte mir ein Foto von Jonny Hartmann geschickt, der just in diesem Moment die Bildfläche betrat und meine Unentschlossenheit beendete.
Der Mann war ungefähr Mitte dreißig, trug schmutzige Jeans, abgelaufene Turnschuhe und hatte eine abenteuerliche Frisur. Die Leute auf der Decke begrüßten ihn zwar, aber ich hatte das Gefühl, dass sie ihn nicht vollständig akzeptierten. Er ließ sich denn auch zwei Meter von ihnen entfernt nieder, wo er eine Flasche Wein auspackte und acht Bierdosen wie Bauern einem Schachkönig beigesellte. Derart gewappnet für den Tag, machte er sich an die Arbeit: ein halbfertiges Pflastergemälde.
»Hallo. Ich heiße Doro.« Ich gab ihm die Hand. »Guten Tag.«
»Jonny. Tachchen.«
Er roch stark nach Bier, und seine Augen waren um zwölf Uhr dreißig bereits glasig, aber die Geschicklichkeit seiner Hände hatte nicht gelitten. Er malte wie besessen. Allerdings verstand ich das, was er malte, überhaupt nicht, was bei moderner Kunst hier und da vorkommen soll. Sein Werk sah für mich aus wie ein entzündetes Organ, unförmig aufgebläht, irgendwie beunruhigend, und ich verfiel auf den sarkastischen Gedanken, dass Jonny vielleicht seine eigene Fettleber malte.
Seine anderen, über den ganzen Platz verteilten und bereits abgeschlossenen Werke gingen in die gleiche Stilrichtung.
»Das sind Auren«, erklärte er, als er meine Ratlosigkeit bemerkte, und fügte hinzu: »Das ist der Plural von Aura.«
»Ja schon, aber wessen Auren?«
»Die von den Leuten, die mir Geld geben, wenn ich ihre Aura male. Für fünf Euro zeige ich dir deine.«
Ich war mir nicht sicher, ob ich meine Aura von Jonny gezeigt bekommen wollte, ebenso wenig, ob sie vor allen Passanten ausgebreitet werden sollte. Aber ich musste mit ihm ins Gespräch kommen, und wenn es meine Aura und fünf Euro dazu brauchte, dann war mir das recht.
Ich steckte also einen Fünfer in den Plastikbecher, woraufhin Jonny mich aufforderte, mit geschlossenen Augen eine Kreide aus der Tüte zu nehmen. Ich zog Schwarz, laut ihm ein schlechtes Omen. Etwas zufriedener machte ihn meine Wahl zweier weiterer Farben, die mit geöffneten Augen erfolgte: Rot und Ocker.
Er legte sogleich los, meine Aura schien ein offenes Buch für ihn zu sein, und ich setzte mich auf eine schattige Bank, nur einen Schritt von dem Künstler entfernt.
Ich ließ ihn eine Minute gewähren, dann sagte ich: »Ich suche Yasmin.«
Er sah mich überrascht an, ließ die Kreide sinken, trank einen Schluck aus der Weinpulle, nahm sie wieder auf und setzte seine Arbeit fort. »Bist du eine Bekannte von ihr?«, fragte
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