Das Nebelhaus
im November 1975 irgendwo im ländlichen Kambodscha. Die Insassen waren Lehrer, Händler, Banker, Künstler, Kleinunternehmer, buddhistische Mönche, christliche Priester, Wissenschaftler, Landbesitzer, Bürger mit Fremdsprachenkenntnissen, Monarchisten, Demokraten, einfach alle, die mit Geld, Grips oder Geist zu tun hatten. Auch Bauern und Fischer waren darunter, sofern sie Saboteure des Regimes Pol Pot waren, und ein Saboteur war man bereits, wenn man unpünktlich zur Arbeit erschien oder ein Buch besaß.
Die Insassen wurden an ihre Betten oder an die Wand gekettet, in Räumen von ein bis zwei Quadratmetern Größe. Die Toilette bestand aus einem Behälter, der oft wochenlang nicht geleert wurde. Sie schliefen zwischen Tausenden von Insekten. Zur Pflanz- und Erntesaison schickte Bruder Viseth Nan sie auf die Felder, zwölf Stunden Arbeit ohne Pause, wochenlang. Es war ihnen verboten zu sprechen, zu stöhnen, zu weinen, auch wenn sie geprügelt wurden. Weinten sie dennoch, wurden sie erneut geschlagen. Brachen sie zusammen, wurden sie an Ort und Stelle erschossen, inmitten der Reisfelder. Gab es nichts für sie zu tun, vegetierten sie in ihren Zellen vor sich hin. Gelegentlich wurden sie gefoltert, manchmal, damit sie andere »Saboteure« denunzierten, manchmal ohne Grund: Elektroschocks, Daumenschrauben, Waterboarding, Verätzungen der Schleimhäute mit Säure, Scheinhinrichtungen am Galgen bis zum Eintritt der Bewusstlosigkeit.
Waren sie physisch verbraucht oder stand eine neue Lieferung von Menschenmaterial bevor, die die Kapazität des Lagers überfordert hätte, wurden sie umgebracht. Um Munition zu sparen, befahl Bruder Viseth Nan, sie mit Plastiktüten zu ersticken oder mit Schaufelhieben in den Nacken zu erschlagen. Alle Bücher, derer Viseth Nan habhaft wurde, ließ er einsammeln, bis er genug hatte, um damit einen Scheiterhaufen zu errichten, auf dem er ihre Besitzer verbrannte. Dasselbe machte er mit jenen, die Geld besaßen, nur dass deren Scheiterhaufen aus den bei ihnen gefundenen Banknoten bestand. Zwei Bildhauer ließ er am Leben, sie waren auf seinen Befehl hin unentwegt damit beschäftigt, Statuen von Bruder Nummer Eins, Pol Pot, zu fertigen.
Frau Nans Geschichten, ihre Erinnerungen, handelten allesamt vom Sterben im Lager 17, denn Leben gab es dort keines. Nicht nur die Opfer, auch die Schlächter starben, jeden Tag, an dem sie mordeten, ein bisschen mehr. Eine einzige Geschichte handelte von Viseth Nan selbst, von seiner Angst, die vom Bruder Nummer Eins geforderte Quote an Reis nicht zu erfüllen, was ihn zum Saboteur gemacht hätte. Vor dem Einschlafen vergoss er Tränen auf die Brust seiner Frau, am Tage dagegen, sobald er das Haus neben dem Lager verlassen hatte, ließ er jeden, der weinte, erschießen. Eine weitere Geschichte handelte von Viseths Frau Nian, die ihren Mann sehr liebte, weshalb sie zuerst nicht glaubte, dass er solche Gräuel beging. Als sie es glauben musste, fing sie an, nach Entschuldigungen für sein Verhalten zu suchen, und als sie sie nicht fand, sah sie über die Gräuel hinweg, und als das nicht mehr ging, blickte sie durch sie hindurch. So starb auch sie, Tag für Tag, vier Jahre lang, bis fast nichts mehr von ihrem Lieben und Leben übrig war. Hätte sie nicht ihren Sohn gehabt, sie hätte zuerst ihren Mann und danach sich selbst erschossen.
Siebenundneunzig Seiten mit Geschichten, siebenundneunzig Schicksale von zwei Millionen Menschen, siebenundneunzig Dämonen bis dato. Ihre Zahl war beständig gewachsen. Von Zeit zu Zeit kam ein Dämon hinzu, wenn ein weiterer Krüppel von Erinnerung aus seinem Versteck kam, in das er sich vor Jahrzehnten verkrochen hatte. Wie viele Geschichten würde Frau Nan noch schreiben? Nicht einmal sie selbst konnte das wissen.
Timo ließ die Papierbögen sinken. Seine Augen waren müde vom Lesen in dem trüben Licht, zumal die Lektüre das Traurigste, Abstoßendste und Ergreifendste war, das ihm seit langem untergekommen war. Ob man es Literatur nennen konnte, war gleichgültig. Es war eine Selbstanzeige, eine Beschreibung des Ungeheuers Mensch, ein Dokument des Versagens und eine Stimme für die gequälten, namenlosen Opfer, alles in einem – unerträglich.
Er rieb sich die Augen. »Warum haben Sie mir das gegeben?«, fragte er. »Warum haben Sie es überhaupt geschrieben? Sie haben die Bilder, Sie können noch tausend Bilder malen. Und jetzt … Wieso?«
Frau Nan hatte die ganze Zeit über mit dem Gesicht zur Wand gestanden,
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