Das Nest des Teufels (German Edition)
Stadt. Es ist vermutlich leicht, ins Land zu kommen, zum Beispiel aus Russland. Wenn ich ein internationaler Terrorist wäre, würde ich mir diese Stadt aussuchen.» Mike musterte eine Gruppe von eifrig knipsenden Japanern, als wären sie ein potenzielles Sicherheitsrisiko.
Die Abendsonne stand noch hoch, die Blätter an den Bäumen waren voll ausgewachsen. Ich setzte die Sonnenbrille auf. Mike fragte mich nach den Gebäuden, die vom Balkon aus zu sehen waren. Ich zeigte ihm das Hochhaus von Neste und die anderen Wolkenkratzer in Keilaranta, dem finnischen Mini-Manhattan, und empfahl ihm, auch den Turm des Olympiastadions zu besichtigen. Banalitäten flogen zwischen uns hin und her wie der Flaum von Pusteblumen, mit dem Unterschied, dass aus unseren Worten nichts aufkeimen würde.
Als ein Ecktisch frei wurde, führte Mike mich hin. Nun fiel das Licht so, dass ich keine Sonnenbrille gebraucht hätte, doch mit ihr fühlte ich mich sicherer. Mike drehte sein Glas, das er kaum zur Hälfte geleert hatte, und fragte schließlich:
«Du willst dich also nicht entschuldigen?»
«Wofür? Dafür, dass ich nicht so erfolgreich bin, wie du erwartet hattest, oder dafür, dass ich aus deinem Büro gerannt bin?»
Mike lachte auf. «Für Letzteres natürlich. Was das Erste betrifft, hast du mich völlig falsch verstanden. Ich habe deine berufliche Entwicklung nicht kritisiert. Aber ich habe zwischen den Zeilen gelesen und bin sicher, dass du viele wesentliche Dinge ausgelassen hast. Im Laufe von zwei Jahren lernt man seine Schüler kennen.»
«Es ist zehn Jahre her, seit ich den Kurs abgeschlossen habe. Heute bin ich ein anderer Mensch.»
«Es wäre ja auch schlimm, wenn du in diesen Jahren nichts dazugelernt hättest. Aber mir scheint, du hast dich nur noch mehr abgekapselt. Zum Beispiel hast du keine Familie gegründet.»
«Es ist nicht leicht, Kinder mit einem Leibwächterjob unter einen Hut zu bringen, außerdem will ich mich nicht binden. Sexpartner findet man jederzeit.»
«Natürlich ist deine Bindungsangst verständlich, wenn man bedenkt, was deiner Mutter passiert ist.»
Mikes Worte überrollten mich wie eine Lawine, und ich war zu keiner Antwort fähig, kippte mir nur den Rest des Drinks in die plötzlich rau gewordene Kehle.
«Dachtest du, ich würde den Hintergrund der Kursteilnehmer nicht abchecken? Du bist keine Vollwaise. Dein Vater saß für den Mord an deiner Mutter im Psychiatriegefängnis. Das hätte mich beinahe davon abgehalten, dich zum Kurs zuzulassen. Aber ich bewundere euch Finnen sehr. Ihr habt fast ebenbürtig gegen die Rote Armee gekämpft. Die gleiche Zähigkeit sah ich damals in dir. Wieso ist sie verschwunden?» Mike legte eine Hand auf meinen Arm – eine Geste, die ich bei ihm noch nie erlebt hatte. Mit der anderen Hand nahm er mir die Sonnenbrille ab. Ich versuchte, meinen Atem unter Kontrolle zu halten. Mike fixierte mich wie ein Löwenbändiger. Auf die unsichere Zwanzigjährige, die in die Millionenstadt gekommen war, um einen Beruf und eine neue Persönlichkeit zu erlangen, aber immer wieder erfolglos vor ihrer Vergangenheit davongelaufen war, hatte dieser Blick gewirkt. Mikes Blick hatte behauptet, alles sei möglich. Ich würde zum Beispiel eines Tages etwas erreichen, das es aufwiegen konnte, dass meine Mutter vor meinen Augen gestorben war.
«Ich wüsste gern mehr über die Menschen, mit denen du jetzt arbeitest, aber ich verstehe, dass du an einem so exponierten Ort nicht darüber reden möchtest. Hast du schon zu Abend gegessen? Vielleicht finden wir im Hotelrestaurant eine geschützte Nische.»
«Wohl kaum. Aber ich kenne ein Restaurant, in dem wir ungestört sind.»
Monika hatte das Sans Nom ein wenig umgestaltet und eine kleine Loge mit vier Plätzen einbauen lassen, für Gäste, die nicht gesehen und gehört werden wollten. Ich rief sie an und fragte, ob der Raum frei sei.
«Hast du einen neuen Freund dabei?», fragte sie neugierig.
«Nein, nur einen alten Lehrer.» Ich war froh, dass Mike kein Finnisch verstand.
«Ich hatte einen Kumpel von Petter und seine Begleitung dort platzieren wollen, aber die müssen eben mit einem normalen Tisch vorliebnehmen. Ihr könnt jederzeit kommen. Hat dein Lehrer irgendwelche Allergien?»
Ich wusste es nicht. Instinktiv hatte ich Mike wohl für einen Superman gehalten, der über alle Schwächen erhaben war, folglich auch keine Allergien haben konnte. Im harten Licht der Frühjahrssonne trat die unnatürliche Straffheit seiner Haut
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