Das Netzwerk
als sein Herz noch voller Schmerz über den an ihm begangenen Verrat gewesen war. Hauptsächlich verkaufte er Batterien und Filme, aber auch kleinere Elektrogeräte wie Stereoanlagen und Fernseher, die schon mal im riesigen Laderaum eines Frachters verloren gehen oder von einem Lastwagen fallen konnten. Obwohl Munzer mit sich selbst immer schonungslos ehrlich war, stellte er seinen Lieferanten keine unnötigen Fragen. Dadurch, dass er seine Ware auf diese Weise billig einkaufte und sie zu marktüblichen Preisen weiterveräußerte, hatte er gutes Geld verdient. So machte man das nun mal in Amerika.
Mit der Zeit war Munzer zu einer tragenden Säule der usbekischen Emigrantengemeinde in New York geworden. Schon vor vielen Jahren war er amerikanischer Staatsbürger geworden und hatte alle Bücher über Thomas Jefferson und Abraham Lincoln gelesen, die seine Kinder von der Schule mit nach Hause gebracht hatten. Er hatte seine drei Söhne aufs College geschickt, und zwei von ihnen machten gerade ihren Doktor an der Universität. Jeden Freitag ging er in die Moschee, und einmal im Monat gab er dem Mullah einen Umschlag voller Bargeld für mildtätige Zwecke. Das Wichtigste, was er in Amerika gelernt hatte, war das Credo der Mittelklasse: nicht auffallen, sich nicht in Gefahr begeben und seine Trauer mit sich selbst ausmachen. Diese Strategie hatte fast zwanzig Jahre langhervorragend funktioniert – bis dieser Mr. Goode ihn angesprochen hatte.
Als Taylor an seiner Tür klingelte, öffnete Munzer sofort, gab aber seinem Besucher nicht die Hand. Ohne ihn zu begrüßen, führte er Taylor die Kellertreppe hinab in einen nach Staub und Moder riechenden Raum. An zwei Wänden standen hohe Regale mit Büchern in Türkisch, usbekischem Türkisch, Russisch, Deutsch und Englisch, während an der Rückwand des Raumes eine große, von zwei in Wandhaltern steckenden Kerzen beleuchtete Fotografie hing. Sie zeigte einen orientalisch aussehenden Herrn mit dünnem Schnurrbart, schmalen Mongolenaugen und hohen, zentralasiatischen Backenknochen, der einen langen, schwarzen Gehrock trug, und erinnerte Taylor in dem schwachen, flackernden Licht irgendwie an ein Heiligenbild.
«Wer ist das?», fragte Taylor, während er näher an das große Foto herantrat und es eingehend betrachtete.
«Mustafa Chokay, der Führer unserer Bewegung. Ein wahrhaft großer Mann. Aber setzen Sie sich doch, dann kann ich Ihnen von ihm und vielen anderen Dingen erzählen. Was möchten Sie trinken? Tee oder Kaffee? Ein Bier vielleicht?»
«Kaffee bitte.»
Munzer rief mit seiner gutturalen Stimme etwas nach oben, und kurz darauf kam eine kleine, dickliche Frau zur Tür herein und brachte ihnen eine Kanne mit türkischem Mokka und zwei winzige Tassen. Obwohl Munzer sie nicht vorstellte, ging Taylor davon aus, dass sie Frau Achmedow war. Mit geübter Hand goss sie den dickflüssigen Kaffee in die Tassen und verschwand, ohne ein Wort zu sagen, wieder nach oben.
«Auf Turkestan», sagte Taylor und hob seine Tasse. Munzer sah ihn fragend an und sagte nichts. Er schlürfte den dunkelbraunenSchaum vom Kaffee, bevor er auf das Bild im flackernden Kerzenschein deutete.
«Mustafa Chokay», sagte er, «war der Führer aller Turkvölker. Der Usbeken, der Kasachen, der Tataren. Wenn man die Geschichte von Mustafa Chokay versteht, versteht man alles über uns.»
«Dann möchte ich sie gerne hören.»
«Ich werde Sie Ihnen erzählen. Hören Sie gut zu. Möchten Sie eine Zigarette?»
«Gerne», sagte Taylor.
Munzer rief wieder etwas nach oben, und kurz darauf kam die Frau abermals die Treppe herab und brachte ihnen eine nicht angebrochene Stange Marlboro. Nur eine einzelne Schachtel anzubieten, wäre bei der sprichwörtlichen Gastfreundschaft der Usbeken völlig undenkbar gewesen. Munzer nahm mehrere Päckchen aus der Stange und drückte sie Taylor in die Hand.
«Vielen Dank», erwiderte Taylor, während er eines der Päckchen öffnete und sich eine Zigarette anzündete.
«Also, Mustafa Chokay war ein Kasache, aus einer sehr angesehenen Familie der Mittleren Horde. Kennen Sie sich mit Kasachen aus? Deren Stämme nennen sich die Große Horde, die Mittlere Horde, die Kleine Horde, die Innere Horde. Chokay gehörte zur Orta Schüs, zur Mittleren Horde, okay? Als er sechzehn Jahre alt war, im Jahr 1906, las Chokay das berühmte Gedicht von Mir-Yakub Dulatov ‹Wach auf, Kasache›. Es ist sehr wichtig für alle Turkvölker, nicht nur für die Kasachen. Kennen Sie
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