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es?»
«Nein.»
«Ich habe eine englische Übersetzung davon, die müssen Sie lesen.» Munzer zog aus einem der Regale ein Buch, schlug es auf und reichte es Taylor, der laut zu lesen begann:
«‹Von Jahr zu Jahr werden unser Land und unser Wasser weniger», las Taylor. «Russische Bauern rauben sie uns. Jetzt liegen die Gräber unserer glorreichen Ahnen mitten auf ihren Dorfstraßen. Russische Bauern zerstören sie, rauben Steine und Holz und bauen ihre Häuser daraus. Der Gedanke daran verschlingt wie Feuer mein Herz.›»
«Das ist ein sehr trauriges Gedicht», sagte Taylor, als er fertig gelesen hatte.
«O ja», erwiderte Munzer und legte die Hand auf sein Herz. «Als Chokay es las, dürstete er nach Freiheit und Unabhängigkeit wie jeder andere Mann in Turkestan. Aber er hatte auch noch die Hoffnung, dass es auch gute Russen gab, die den Turkvölkern in die moderne Zeit hinein helfen würden. Und deshalb ging er auf ein russisches Gymnasium in Taschkent und später auf die Universität in St. Petersburg , wo er zusammen mit Russen Jura studierte. Er wurde sogar Mitglied der russischen Duma, die ihn zu ihrem Sekretär für die Belange Turkestans wählte. Und dann kam die Februarrevolution von 1917.
Für uns Turkvölker war das die erste große Tragödie im zwanzigsten Jahrhundert. Chokay und andere haben damals geglaubt, dass die Russen uns helfen wollten weil Kerenski 1916, nach einem großen Aufstand in ganz Turkestan, Reformen versprochen hatte. Aber als er dann im Februar 1917 an die Macht kam, was hat er für uns getan? Nichts. Deswegen hat sich Chokay direkt an die Muslime und die Türken gewandt und eine Zeitung gegründet mit dem Titel
Ulug Turkistan
–
Großes Turkestan.
Später gründete er noch eine zweite, die
Birlik Tuuy
hieß,
Einheit.
»
«
Flagge der Einheit
», korrigierte Taylor.
«Allah! Sie sprechen Türkisch?»
Taylor nickte.
«Dann kennen Sie am Ende die Geschichte von Mustafa Chokay bereits?»
«Nein. Bis heute habe ich noch nie etwas von ihm gehört. Erzählen Sie weiter, das interessiert mich sehr.»
«Okay. Als im Oktober 1917 dann die Oktoberrevolution kam, wurde sie zur zweiten Tragödie für die Turkvölker. Die Bolschewiken haben zwar in Taschkent einen Rat der Volkskommissare für Turkestan ins Leben gerufen, aber alle fünfzehn Mitglieder dieses Rats waren Russen! Nicht ein einziger Muslim war unter ihnen. Die Muslime haben sich gefragt, wie das sein kann und eine Woche später in Kokand in Usbekistan einen Muslim-Kongress für ganz Turkestan abgehalten. Das war am 22. November 1917, ein denkwürdiges Datum! Dort haben sie dann die freie und unabhängige Nation Turkestan ausgerufen und Mustafa Chokay zu ihrem ersten Präsidenten gewählt!
Aber der große Traum sollte nicht lange währen. Das Freie Turkestan bestand nur zwei Monate lang, dann schickten die Bolschewisten im Februar 1918 die Rote Armee und armenische Miliz nach Kokand. Turkestan hatte keine Soldaten, um die Stadt zu verteidigen, und so wüteten die Bolschewisten und Armenier dort drei Tage lang, brannten alles nieder und töten alle muslimischen Männer. Die halbe Bevölkerung von Kokand wurde damals umgebracht … Oft fragen mich die Leute, was uns die Armenier denn angetan haben, dass wir sie so hassen. Jetzt wissen Sie, was. Aber Mustafa Chokay – Allah sei Dank – überlebte das Massaker und konnte nach Tbilisi im Freien Georgien entkommen. Als die Rote Armee 1920 auch dort einmarschiert ist, floh er weiter in die Türkei, wo er in Istanbul eine neue Zeitung gründete:
Yeni Turkistan – Neues Turkestan.
Dann ging er weiter nach Europa und gab dort 1929 wieder eine Zeitung heraus, die
Yash Turkistan
hieß.»
«
Junges Turkestan
», übersetzte Taylor.
«Sehr gut. Anscheinend lernt man bei der CIA jetzt besser Türkisch als früher.»
«Mit Sicherheit.»
«Mustafa Chokay lebte also im Exil, aber zu Hause in Turkestan ging sein Volk zugrunde. In den Dreißigerjahren wurden über eine Million Kasachen umgebracht. Wissen Sie, was das bedeutet? Das ist die halbe Bevölkerung von Kasachstan! Die Sowjets haben alle getötet. Alle Schriftsteller, alle Lehrer, alle Adligen, alle Stammesführer. Niemand blieb übrig. Und der arme Mustafa Chokay musste das alles blutenden Herzens mit ansehen und konnte nichts dagegen tun. In den Zwanzigerjahren haben die Briten uns Hilfe gegen die Kommunisten versprochen. Sie haben Waffen von Kashgar nach Sinkiang geschickt, damit die Muslime gegen die
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