Das neue Evangelium
deren Fensterhöhlen schwere, weiße Tücher wehten, die den Wind abhielten. Hier war das Meer weit, aber es roch trotzdem nach Salz. In der Ferne glitzerten ausgedehnte Salinenfelder silbrig in der Abendsonne.
Nachdem sie sich erfrischt hatten, trafen sich die Gefährten im großen Saal, der als Refektorium diente. Die orthodoxen Mönche, die den Burgraum nutzten, wirkten in ihren schwarzen Gewändern und mit den hohen, schwarzen Hüten wie im Wind flatternde große Vögel, als sie über den Burghof auf das Refektorium zustrebten.
Dort wurde bereits auf langen Tischen das Geschirr aufgetragen, der Vorleser nahm seinen Platz in der Kanzel ein, dann trugen Novizen das Essen auf. Die Angekommenen staunten über die Fülle der Speisen. Man aß und trank reichlich und lauschte dem Vorleser, der zwei Kapitel aus dem Barnabasbrief las, und jeder der Gäste ließ seinen Gedanken freien Lauf. Der Barnabasbrief behandelte ebenso wie die Paulusbriefe nichts Ketzerisches. Ein schöner Text über die Verklärung des Irdischen.
Was immer über dieses neue Evangelium gesprochen wird, dachte Henri, ich kann nicht glauben, dass es existiert. Unsere vier Evangelien sättigen unseren Glaubenshunger ausreichend. Wir brauchen einfach kein neues.
Nach dem Essen saßen sie im Innenhof zusammen, der von einem Kreuzgang umschlossen wurde. Eine wehmütige Stimmung machte sich breit. Joshua sagte nichts. Sean begann, drauflos zu plappern. Madeleine blickte traurig. Und Uthman polierte an seinem Messer herum.
»Kurz und gut«, sagte Joshua plötzlich. »Ich liebe euch alle! Und ich freue mich schon jetzt auf das Wiedersehen auf der Landzunge Karpasia. Aber ich werde meine Pläne nicht ändern. Wenn der jüdische Apostel Barnabas von einem Juden erschlagen wurde, dann hat ein anderer Jude dort nichts zu suchen. Solche Orte der Gewalt muss man meiden.«
»Ich verstehe dich«, sagte Henri ruhig. »Ihr Juden seid so oft verfolgt und beschuldigt worden, dass es den Anschein hat, als würde euch ein immerwährender Prozess gemacht. Wenn ich Jude wäre, würde ich das Barnabas-Kloster auch nicht aufsuchen.«
»Vergesst dieses so genannte neue Evangelium«, sagte Joshua. »Kümmert euch einfach nicht darum. Es bringt Unglück. Mit solchen Dingen kommt nur Ungutes in die Welt.«
»Ich will es sehen«, sagte Ludolf, »Henri muss das nicht tun. Und wenn Uthman es nicht übersetzen möchte, finde ich einen anderen Übersetzer.«
»Wir werden sehen«, sagte Uthman. »Reisen wir erst einmal zum Kloster, dann entscheide ich, was ich tue.«
»Außerdem, glaube ich, du siehst das alles zu schwarz, Joshua«, sagte Henri. »Wenn ein solches Evangelium aufgetaucht ist, dann kann es nicht schaden, einen Blick darauf zu werfen. Es ist ja nur ein Schriftstück, das tut niemandem etwas zuleide.«
Henri war überzeugt von seinen Worten und lächelte den Freund beschwichtigend an. Irgendetwas tief in seinem Inneren ließ ihn hoffen, dass er sich nicht täuschte.
Der nächste Morgen war klar und kühl, der Winter hatte noch nicht gänzlich Abschied genommen, auch wenn die Mandelbäume blühten. Die Reisenden standen regungslos mit ihren Pferden in einem Hain von Olivenbäumen. Der Abschied war vollzogen, aber erst, als Joshua verschwunden war, schnalzte Henri mit der Zunge, und sie trabten an. Jetzt ging es durch die Schlucht zwischen den beiden Gebirgsmassiven nach Süden.
Kurz vor Levkoniko trafen sie einen Mann, der sich ihnen anschließen wollte. Henri beschlich das seltsame Gefühl, dass der Mann auf sie gewartet hatte. Aber das war ja unmöglich – oder etwa nicht?
Der Reiter stand auf einem Felsvorsprung. Als die Freunde darunter vorüberritten und grüßten, lenkte er sein Pferd auf ihren Weg.
Henri war misstrauisch. Aber er schalt sich insgeheim, ein unverbesserlicher Schwarzseher zu sein. Dennoch, das ungute Gefühl blieb.
Der Mann hieß Jesus de Burgos. Er kam aus Spanien, sprach aber perfekt französisch und auch deutsch. Henri schätzte ihn auf mindestens sechzig Jahre. Der Reisende, der allein nach Famagusta unterwegs war, trug keinen Bart, sein Gesicht war hager, seine dunklen Augen leuchteten. Er hatte eine merkwürdige Art, Blicken auszuweichen, dann aber, wenn er sich unbeobachtet wähnte, abschätzig zu schauen, als registrierte er alles. Henri bemerkte das und nahm sich vor, auf der Hut zu sein.
Die anderen begrüßten den neuen Reisebegleiter freundlich und nahmen ihn arglos in ihre Mitte auf.
Jesus de Burgos erzählte sogleich,
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