Das neue Evangelium
unsicher.«
Alle stiegen ab. Henri bedachte Jesus mit einem nachdenklichen Blick, dem dieser auswich. Henri schüttelte das ungute Gefühl ab, das ihn beherrschte. Er überdachte noch einmal die Situation und kam zu dem Schluss, dass der Spanier ihn wohl doch eher vor dem Abrutschen gerettet hatte.
Oben angekommen machten sie eine Pause. Es herrschte Schweigen. Sie blickten hinunter in den Abgrund. Mit Schaudern stellten sie sich vor, was passiert wäre, wenn Henri oder ein anderer den Halt verloren hätte. Sie sprachen nicht davon, aber in den Mienen stand der Schrecken.
Sie hielten sich nicht lange auf, beruhigten nur ihre Pferde. Denn ein Blick zum Himmel zeigte, dass sich vom Meer her Wolken näherten. Erst weiße, die jedoch immer dicker wurden, dahinter dunkle. Der Horizont war schwarz. Ein lange erwartetes, von manchen ersehntes Unwetter kündigte sich an, vor dem man sich besser in Sicherheit bringen sollte.
Kurz darauf entdeckten sie die Ruine eines verlassenen Klosters, in der sie Schutz vor dem Unwetter fanden. Rotgelbe Säulen und Torbögen sowie ein paar Zinnen und Türme waren das Einzige, was vom einstigen Gebäude übrig geblieben war, dazwischen wuchsen Zypressen. Scharen von Vögeln hatten sich hier eingenistet, beim Eintreffen der Schutzsuchenden flogen sie kreischend davon.
Die Gefährten fanden schließlich Unterschlupf in einem Raum, dessen Decke noch intakt war. Sie suchten trockenes Holz zusammen und entzündeten ein kleines Feuer. Als das Unwetter genau über ihnen stand und es donnerte und blitzte und heftige Hagelschauer niedergingen, waren sie froh, das Feuer zu haben. Henri stand auf, um die Pferde tiefer in den überdachten Raum, der vielleicht die Kapelle gewesen war, hineinzuziehen. Uthman kam hinzu und half ihm.
»Was denkst du?«, fragte Uthman leise. »Hat er dich gestoßen, oder hat er dich gehalten?«
»Wir sollten nicht darüber nachdenken, Uthman. Unsere Stimmung könnte uns zu ungerechtfertigten Annahmen verführen.«
»Doch, ich will darüber nachdenken! Können wir ihm trauen oder nicht, das ist doch die Frage! Wir reiten mit ihm zusammen, er könnte uns gefährlich werden.«
Henri zögerte. Er nestelte an den Gurten der Pferde. Dann sagte er: »Ich weiß nicht, wer er ist. Und ich weiß nicht, was er vorhat. Wir sollten einfach vorsichtig sein und ihn im Auge behalten.«
»Madeleine und Sean scheinen keinen Verdacht zu hegen. Am besten, wir sprechen mit ihnen.«
»Nein, behellige sie nicht damit, es wird sie nur beunruhigen. Du und ich, wir wechseln uns mit der Beobachtung ab. Das heißt, dass einer von uns auch des Nachts wach bleiben sollte. Wir verständigen uns noch darüber.«
»Gut. Wie weit ist es noch bis zum Kloster des Barnabas?«
»Ich schätze, drei Tagesreisen. Dann sind wir Jesus de Burgos ohnehin wieder los.«
Sie gingen zu den anderen zurück. Mittlerweile war das Abendessen bereitet, es duftete nach gebratenen Stücken eines Hasen, den Uthman tagsüber erlegt hatte. Sie tranken dazu kühles Quellwasser. Langsam lies Henris Anspannung nach.
Er beobachtete Jesus de Burgos aufmerksam, entdeckte aber nichts Auffälliges in dessen Verhalten. Der alte Pilger bewegte sich selbstverständlich und ohne spürbare Anspannung, seine Handreichungen waren hilfreich.
Madeleine saß an seiner Seite, sie sprachen über Notre-Dame.
Jesus de Burgos behauptete, in einem Kloster der Bretagne eine rätselhafte alte Handschrift gesehen zu haben, die Mönche auf einen der vier Evangelisten zurückführten. Es habe Streit darum gegeben, und später sei die Schriftrolle mit der Abschrift des Matthäus-Evangeliums einfach verschwunden.
»Wer hat die vier Evangelien eigentlich aufgeschrieben?«, wollte Sean wissen.
»Die vier Evangelisten natürlich«, scherzte Uthman.
»Ja, aber wer waren sie? Und wann genau haben sie die Texte geschrieben?«
»Das wissen wir nicht genau«, sagte Henri. »Die Kirche streitet darüber. Es ist auch nicht wichtig. Wichtig ist, was sie beinhalten und dass wir daran glauben.«
»Mit Verlaub, Henri«, sagte Jesus, »es ist sehr wohl wichtig. Denn je älter die Evangelien sind, desto näher stehen sie dem Geschehen, von dem sie berichten, und stammen vielleicht noch von Augenzeugen, die Jesus von Nazareth wirklich kannten. Damit erhöht sich die Glaubwürdigkeit der Berichte ungemein.«
»Ja, zweifelt Ihr denn an der Glaubwürdigkeit von Markus, Matthäus, Lukas und Johannes?«, fragte Henri.
»Kein Christ zweifelt daran. Aber
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