Das neue Philosophenportal
So kommt das Buch zu der zunächst befremdlichen, aber in der Argumentation konsequenten Auffassung, dass
»alles, was ist, offenbar auch gut ist«.
Ist in der Welt also alles vorausbestimmt und geregelt? Sitzt der Mensch in einem Netz, das von Gott schon längst festgezurrt
ist? Damit ist man beim Problem der göttlichen Vorsehung und des Determinismus, also der Auffassung, dass alles, was geschieht,
der Gesetzmäßigkeit von Ursache und Wirkung unterliegt und es daher auch keine Willensfreiheit des Menschen gibt, die diese
festgefügte Kette von Ursache und Wirkung durchbrechen könnte. Wie können wir dann aber, so der Einwand des Boethius, für
unsere Handlungen moralisch verantwortlich sein? Und warum, so ein weiterer Einwand, geht es in einer Welt, in der Gott alles
zum Besten bestellt hat, vielen Schurken so gut und vielen moralisch guten Menschen so schlecht?
Die Antwort der »Philosophie« besteht darin, wiederum zwei verschiedene Arten von Wirklichkeit voneinander zu unterscheiden:,
die Wirklichkeit Gottes und die Wirklichkeit des Menschen. Mit anderen Worten: Gott spielt in einer anderen Liga. Er lebt
nicht in der Zeit, sondern in der Ewigkeit. Für ihn gibt es streng genommen gar keine »Vorsehung«, denn die Trennung zwischen
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist bei ihm aufgehoben. Er »sieht« nichts »voraus«, weil es für ihn kein Voraus gibt,
sondern nur eine Gegenwart, in der alles gleichzeitig ist. Göttliches Wissen kann keine »Ursache« von Geschehnissen sein,
weil Gott außerhalb der zeitlichen Abfolge von Ursache und Wirkung steht. Deshalb schließt die göttliche Vorsehung die Willensfreiheit
des Menschen nicht aus. Nur für uns Menschen, für die sich die Wirklichkeit als zeitlicher Ablauf darstellt und deshalb immer
nur bruchstückhaft erfahrbar ist, siehtes so aus, als sei das göttliche Wissen mit der Determination der Ereignisse verbunden. Unser Begriff des Vorauswissens denkt
notwendigerweise immer die zeitliche Dimension – und damit den Bezug zur Zukunft – mit.
Diese Version der sogenannten »Zwei-Welten-Theorie«, dass menschliche Erkenntnis in den Anschauungsformen von Zeit und Raum
befangen und uns die Welt jenseits davon, die Welt des »Dings an sich«, verborgen bleibt, hat sich noch bis zu Kants
Kritik der reinen Vernunft
im 18. Jahrhundert erhalten.
Dass die menschliche Vernunft nicht die Zusammenhänge durchschaut, die für das göttliche Auge offenbar sind, gilt nach Boethius
auch für das Verständnis der Tatsache, dass es schlechten Menschen scheinbar gut und guten scheinbar schlecht geht. Wir verstehen
nicht, weil wir nicht, wie Gott, alles sehen. Im Gegensatz zu Gott bleibt der menschlichen Vernunft verborgen, welchen moralischen
Stellenwert die Handlungen der Menschen innerhalb des großen Ganzen wirklich haben. Dem Menschen bleibt gewissermaßen nur
der Seufzer: Wer weiß, wozu es gut ist! Er muss, so Boethius am Ende des Buches, der Gerechtigkeit Gottes vertrauen und gleichzeitig
anerkennen, dass ihm die göttliche Perspektive unerreichbar ist: »Es bleibt, alle Dinge von oben überblickend, ein vorauswissender
Gott, und die immer gegenwärtige Ewigkeit seines Schauens trifft mit der zukünftigen Beschaffenheit unseres Handelns zusammen,
den Guten Belohnungen, den Bösen Strafen austeilend.«
Boethius starb 525. Das Todesurteil wurde vollstreckt, indem man ihn im Gefängnis erdrosselte. Wir wissen nicht, wie weit ihm sein Gespräch mit
der Philosophie geholfen hat, sich mit seinem Leben zu versöhnen und auf den Tod vorzubereiten.
Trost der Philosophie
jedenfalls hat, wie kaum ein anderes philosophisches Werk der Antike, in das frühe Mittelalter wie ein strahlendes Licht aus
einer versunkenen Epoche gewirkt. Es markiert das Wegende einer Denkepoche, wurde aber auch zu einer Brücke zwischen römisch-hellenistischem
und mittelalterlichem Denken. Für alle großen Philosophen des Mittelalters blieb Boethius Pflichtlektüre.
Die von Boethius aufgeworfenen Probleme, wie das der Vereinbarkeit gesetzlicher Vorherbestimmtheit mit der Freiheit des menschlichen
Willens, haben die Diskussion aber noch viel länger bestimmt. Sie wurden vor allem von Denkern aufgegriffen, denen es, wie
dem spätmittelalterlichen Kardinal Nikolaus von Kues oder dem Aufklärer Immanuel Kant, darum ging, die Grenzen und Widersprüche
menschlicher Erkenntnis aufzuzeigen.
Doch seine Wirkung bis in die Gegenwart hinein
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