Das neue Philosophenportal
in der Bildlichkeit der Sprache bemerkbar. Rousseau vergleicht den Menschen mit einer Pflanze, die in Gefahr ist zu verdorren
und die nur unter geeigneten Bedingungen und mit richtiger Pflege wieder »veredelt« werden kann. Zu diesem Zweck stellt er
die für den Menschen geeignetsten Versuchsbedingungen her. Er zieht seinen fiktiven Zögling Emile, bildlich gesprochen, in
einem Gewächshaus groß, in dem dieser ungestört gedeihen kann. Er entwirft also eine pädagogische Modellsituation.
Emile ist ein männliches Kind von adligem Stand, ein Kind also, das frei von sozialen und materiellen Zwängen aufwachsen kann.
Er hat keine Geschwister. Er wird auch von Spielgefährten und, da er auf dem Land lebt, vom Sündenbabel der Stadt ferngehalten.
SeineEntwicklung wird nicht von den Eltern, sondern von einem Erzieher begleitet. Dieser ist jung genug, um dem Zögling auch als
Gefährte zu gelten und keine Hierarchie zwischen beiden entstehen zu lassen. Der Erzieher ist nur für Emile da und steht ihm
den ganzen Tag zur Verfügung. Er lebt das Leben seines Zöglings mit.
Rousseaus Erziehungskonzeption ist für seine Zeit revolutionär. Denn der Erzieher soll keine Autorität, sondern eine Hebamme
der Natur sein. Er greift nicht von außen in das Leben Emiles ein. Rousseaus Erziehungsidee ist die einer »negativen Erziehung«,
einer Erziehung ohne festgelegte Regeln und Vorschriften. Sie wird von dem Grundsatz geleitet, den wir heute »learning by
doing« nennen würden. Es ist eine erfahrungsorientierte Erziehung, in der Selbsttätigkeit und Selbsterfahrung im Mittelpunkt
stehen. Das Kind soll das, was es weiß, durch eigene Entdeckung erwerben und dabei auch unmittelbar den Nützlichkeits- und
Praxisbezug erfahren. Auch Rousseau will eine Erziehung nach den Maßstäben der Vernunft, doch seine »Vernunft« ist eine eng
an die Natur angebundene Vernunft, eine Vernunft, die den Menschen das lernen lässt, was er braucht, und nicht das, was die
Konvention vorschreibt.
Rousseau spricht aus eigener leidvoller Erfahrung, wenn er eine Erziehung ablehnt, in der Regeln und tradiertes Wissen lediglich
aufgepfropft werden. Überhaupt wendet er sich gegen reines Bücherwissen und gegen den Vorrang intellektueller Bildung. Der
Herausbildung körperlicher Fähigkeiten misst er eine mindestens ebenso große Bedeutung wie der geistigen Erziehung bei. Der
kindliche Entfaltungsdrang soll weder in körperlicher noch in geistiger Hinsicht gehemmt werden.
Diese Forderung Rousseaus wird nur auf der Grundlage seines Menschenbildes verständlich. In diesem Punkt entfernt er sich
von dem pessimistischen Menschenbild der Calvinisten. Er ist davon überzeugt, dass die menschliche Natur ursprünglich gut
ist, und glaubt nicht, wie viele seiner Zeitgenossen, dass in den Kindern etwas Böses steckt, das es auszurotten gilt. Das
Böse kommt für ihn erst durch den Einfluss der Menschen und der Gesellschaft hinzu, durch Abschwächung und Unterdrückung der
natürlichen Kräfte.»Alle Bosheit entspringt der Schwäche«, so Rousseau, »das Kind ist nur böse, weil es schwach ist. Macht es stark, und es wird
gut sein.«
Die von Rousseau immer wieder betonte Nützlichkeit und der von ihm geforderte Praxisbezug wiederum tragen deutlich den Stempel
des bürgerlichen Selbstverständnisses, das sich von aristokratischen Werten absetzte. Im Bürgertum, das im 18. Jahrhundert immer mehr gesellschaftliche Bastionen besetzte und in der Französischen Revolution schließlich auch die politische
Macht eroberte, galt Leistung mehr als Stand und Repräsentation. Vor allem die »Arbeit« im Sinne einer produktiven und wertschöpfenden
Tätigkeit des Menschen wurde aufgewertet. Arbeit, Mäßigkeit in der Lebensführung, körperliche Bewegung: Dies sind typisch
bürgerliche Tugenden, und es sind auch die Rousseau’schen Tugenden. Die Erziehung zum Menschen, die im
Emile
vorgeführt wird, schöpft in vielfacher Weise aus bürgerlichen Wertvorstellungen.
Konsequenterweise sind die ersten Lernschritte, die Emile machen soll, nicht solche des abstrakten Denkens, sondern solche
des sinnlichen Erfassens. Das erste Begreifen der Welt geschieht durch eine, wie Rousseau es nennt, »sinnenhafte Vernunft«,
also mit Hilfe der Füße, Hände und Augen. Das Kind lernt zunächst, indem es sich und die Umwelt sinnlich erfährt. Eines der
wichtigsten Instrumente dieser frühen sinnlichen Welterfahrung ist das Spielen.
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