Das neue Philosophenportal
Zeitpunkt erst relativ spät, nämlich in der Pubertät angesetzt. Bis dahin ist Emile ein von der Gesellschaft
abgeschirmtes Landei. Moralische Integrität und soziale Nützlichkeit stehen bei Rousseau höher im Kurs als taktvolles und
souveränes Auftreten. Auch hier gewinnen bürgerliche Erziehungsideale die Oberhand über aristokratische. Zwar soll auch Emile
Weltläufigkeit lernen, die soziale Tugend, die im Mittelpunkt der Erziehung junger Aristokraten stand. Doch sie erhält bei
Rousseau eine charakteristische Färbung. Emile soll mit Umgangsformen vertraut sein, ohne dass der Schein zum Sein wird: Er
soll sie beobachten, beherrschen, aber gleichzeitig Distanz zu ihnen wahren. Sein natürliches Selbstbewusstseindarf nicht in Eitelkeit und Eigenliebe abrutschen. »Er ist fest«, so Rousseau, »aber nicht selbstgefällig. Seine Manieren
sind frei, aber nicht herablassend.« Die wahre Höflichkeit darf keine Routine sein, sondern besteht in einer natürlichen Güte.
Vor allem aber muss Emile das andere Geschlecht kennen lernen. Rousseau plädiert, für seine Zeit höchst ungewöhnlich, für
eine offene Sexualaufklärung. Dennoch ist Emile auch hier, im Vergleich zu seinen Zeitgenossen, ein eher später Junge. Bis
zu seinem zwanzigsten Lebensjahr soll er keine sexuellen Erfahrungen machen. Und auch dann hat er keine echte Wahl: Seine
erste Partnerin wird ihm von seinem Erzieher zugeführt. Für Rousseau ist die Frage des richtigen Partners zu wichtig, als
dass er sie dem Zufall überlassen könnte.
Wie der biblische Gott dem ersten Menschen eine Gefährtin zugesellt, so erschafft auch er im 5. Buch des
Emile
die zukünftige Frau seines Zöglings. Sie heißt Sophie. Sophies Erziehung folgt, anders als die Emiles, eher traditionellen
Mustern, denn die Frau ist, so Rousseau, »dazu geschaffen, zu gefallen und sich zu unterwerfen«. Sophie wird auf den Mann
hin und für ein häusliches Leben erzogen. Dass sich Emile schließlich in sie verliebt, überrascht den Leser nicht. Denn in
Rousseaus Erziehungswelt lenkt die Natur auch die Liebesbeziehungen auf vernünftige Weise: »Man liebt erst, nachdem man geurteilt
hat«, so lautet der – von der Lebenserfahrung unberührte – Grundsatz Rousseaus.
Nachdem Rousseau seinen Zögling noch auf die für die höheren Stände üblichen Bildungsreisen geschickt hat, setzt er an das
Ende des Buches das Happy End, die Eheschließung. Der märchen- und idyllenhafte Schluss des Buches erinnert den Leser daran,
dass es sich hier nicht um einen Erfahrungsbericht und auch nicht um eine praktische Lebensanleitung handelt, sondern um einen
in Erzählform eingekleideten Modellversuch, dessen Ergebnisse jeder in seine eigene Wirklichkeit übersetzen muss.
Die Publikation des
Emile
1762 alarmierte sofort die Zensur und löste erhebliche Turbulenzen im Leben Rousseaus aus. Er musste Paris fluchtartig verlassen
und sich viele Jahre lang dem Zugriff der Behördenentziehen. Nicht die im Buch dargelegten Erziehungsmethoden, sondern die im »Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars« enthaltenen
unorthodoxen Ansichten über die Religion hatten zur Beschlagnahmung und sogar zur Verbrennung des Buches geführt. Auch von
Zeitgenossen erfuhr Rousseau Kritik. Voltaire war der Erste, der darüber spottete, dass ein Mann, der seine fünf Kinder ins
Findelhaus gesteckt hatte, beanspruchte, den Leser über Erziehung zu belehren.
Rousseau selbst war davon überzeugt, dass
Emile
von allen seinen Büchern die größte Wirkung haben werde. Und spätestens als die Jakobiner seinen Leichnam ins Pariser Pantheon
überführten, begann Rousseaus Karriere als Epochendenker. Die Aufklärer beriefen sich auf seine Gesellschaftskritik, sein
Plädoyer für Bürgertugenden und seine Forderung nach Mündigkeit des Individuums. So ist die von Immanuel Kant formulierte
klassische Forderung der Aufklärung: »Wage es, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« unmittelbar den Erziehungsgrundsätzen
des
Emile
entnommen. Der von Rousseau initiierte Kult der Empfindsamkeit und Natürlichkeit, der das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert beherrschte, fand in Goethes
Werther
einen Höhepunkt. Rousseau wurde damit auch zum philosophischen Anreger der Romantik.
Vor allem aber kann Rousseau als Vater der modernen Pädagogik gelten, wie sie von dem Schweizer Rousseau-Verehrer Johann Heinrich
Pestalozzi Ende des 18. Jahrhunderts begründet wurde. Die
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