Das neue Philosophenportal
Natur!« schlug Rousseau wie ein Meteorit in die geistige Landschaft einer Epoche ein, die
wie keine zuvor glaubte, allen vorhergehenden Zeitaltern zivilisatorisch überlegen zu sein. Aber auch für die Pariser Aufklärungsintellektuellen,
die »philosophes«, war der Schweizer Autodidakt ohne Vermögen und vornehme Familienherkunft, der ein Vagabundenleben geführt
und in den verschiedensten Bereichen der Kunst dilettiert hatte, ein explosives Naturereignis und eine höchst ungewöhnliche
Erscheinung.
In der Tat hat Rousseaus Lebensgeschichte, die er später in seinen
Bekenntnissen
literarisch verarbeitete, immer genauso viel Interesse erweckt wie sein unorthodoxes Werk. Der 1712 in Genf geborene Jean-Jacques
hatte eine Kindheit und Jugend, die man heute als »sozial problematisch« bezeichnen und die die pädagogischen Bemühungen von
Streetworkern auf den Plan rufen würde.
Zwar wächst er als Sohn eines Uhrmachers im Genfer Mittelstand auf und erhält von seinem Vater zunächst auch zahlreiche Leseanregungen.
Doch die Familie bricht schnell auseinander. Die Mutter verstirbt früh, Rousseaus Bruder wird in eine Erziehungsanstalt gegeben,
und auch sein Vater verlässt die Familie, als Rousseau gerade zehn Jahre alt ist. Er wird zu einem Pfarrer in Obhut gegeben
und lernt das Handwerk des Gravierens. Die Erziehung im Pfarrhaus hat er in schlechter Erinnerung behalten: Er wird gezüchtigt
und mit trockenem Schulwissen vollgestopft.
Doch auch Genf, die Stadt Calvins, hat mit ihrem streng protestantischen geistigen Klima viele seiner Anschauungen bis an
sein Lebensende beeinflusst. Rousseau verabscheute Luxus, die Künstlichkeit gesellschaftlicher Umgangsformen und die großen
Städte als Horte von Laster und Vergnügungen. Sogar der Kunst stand er ablehnend gegenüber, wenn sie sich als Form gesellschaftlicher
Unterhaltung präsentierte. So hat er in späteren Jahren Voltaires Absicht bekämpft, in Genf ein öffentliches Theater zu errichten.
Obwohl Rousseau sich in vielen Punkten von der reinen calvinistischen Lehre entfernte, hatten seine Ideale der Natürlichkeit
und der Tugend puritanische Züge, die auf seine calvinistischen Wurzeln verweisen.
Mit sechzehn Jahren verlässt Rousseau Genf ohne abgeschlossene Ausbildung, ohne Arbeit und ohne Ziel. Vierzehn Jahre lang
wechselt er in der Region Südfrankreich, Schweiz und Norditalien von einem Ort zum anderen, verdingt sich als Hauslehrer und
Katasteramtsgehilfe, oder er zieht einfach als Landstreicher und Musikant über das Land. In Turin wird er von einem katholischen
Priester verköstigt und lässt sich von diesem überreden, zum Katholizismus überzutreten. Besonders lange ist er im Gebiet
des damals unabhängigen Herzogtums Savoyen unterwegs und unternimmt dort ausgiebige Wanderungen. Seine intensiven Naturerfahrungen
prägen seine entstehende Weltanschauung nachhaltig. Das ländliche Leben zieht er zeitlebens dem Stadtleben vor.
Rousseau war ein sensibler, aber auch emotional sehr unausgeglichener Mensch. Er neigte sowohl zur Schwärmerei als auch zurWehleidigkeit. Konflikte mit Menschen führten bei ihm sehr leicht zu endgültigen Zerwürfnissen. Auch eine gleichberechtigte,
reife Beziehung zu einer Frau zu entwickeln fiel ihm schwer. In die sozialen Konventionen der höheren Gesellschaft konnte
er sich nie einfinden. Er blieb ein schwieriger Sonderling.
Doch an Bildung fehlte es dem Provinzler Rousseau keineswegs. Er eignete sich beträchtliche Kenntnisse auf dem Gebiet der
Musik an, die ihn nicht nur befähigten, jahrelang als Musiklehrer zu arbeiten, sondern auch der Academie Française ein musiktheoretisches
Werk vorzulegen. Vor allem aber auf dem Gebiet der Literatur und Philosophie war er äußerst bewandert. So kannte er nicht
nur die Erziehungsvorstellungen Platons, sondern auch die 1693 erschienenen
Gedanken über die Erziehung
des englischen Aufklärungsphilosophen John Locke, die seinen eigenen Anschauungen sehr entgegenkamen und sie auch beeinflussten.
Locke wies hier bereits auf die besonderen Bedürfnisse des Kindes hin und verstand Lernen als eine Form der natürlichen Entwicklung,
die sich am Vorbild eines Erziehers orientiert. Allerdings strebte Locke, anders als Rousseau, eine standesorientierte Erziehung,
eine Erziehung zum Gentleman, an und gab der Entwicklung geistiger Kräfte Vorrang vor den körperlichen.
1742 ließ sich Rousseau in Paris nieder, wo er zunächst weiterhin in
Weitere Kostenlose Bücher