Das Nostradamus-Testament: Thriller (German Edition)
Ministerpräsident geworden war, war es eine seiner ersten symbolischen Handlungen gewesen, die Burg zu entstauben und zu restaurieren. »Ein architektonisches Meisterwerk, in dem die dunklen Steinformen der Vergangenheit und die strahlende Eleganz unserer Gegenwart aufeinandertreffen«, hatte ein Architekturkritiker in La Stampa gejubelt. Steintürme und Spiegelglas, Schießscharten und grauer Beton, Brustwehren und Aluminiumflächen. Sitzungs- und Konferenzflügel, Vortragssäle. Eine Bibliothek mit Lesesaal. Und selbstredend: eine gut bestückte Bar, in der es Gin Tonic und Erdnüsschen gab, dazu einschläfernde Tafelmusik. Der Pianist sah aus, als träumte er davon, im Savoy in London zu spielen. Der Raum war halb leer. Oder halb voll. Je nachdem. Die meisten Gäste saßen noch im Speisesaal. Alle kannten einander, zumindest kannte jeder irgendwen. Ich blätterte auf meinem iPad in der neuesten digitalen Ausgabe des American Journal of Archaeology . Das Tablet hatte ich mir angeschafft, um das leicht altmodische und verstaubte Image eines Dozenten der Archäologie etwas aufzupolieren. Jetzt versuchte ich stur zu ignorieren, dass jemand eben meinen Namen gesagt hatte. Ich bin sehr menschenscheu und den Segnungen der Anonymität zugeneigt, in der man sich verstecken, in die man sich einhüllen und in der man sich verlieren kann. Erst wenn man sie nicht mehr besitzt, weiß man, was man für immer verloren hat. Der Anonyme kann in einer Volksmenge untertauchen. Sich unsichtbar machen. Ich bin ein Verehrer der Anonymität. Der Camouflage des Daseins. Ich falle ungerne auf. So war es schon immer.
Ich bin Albino.
Von Fremden erkannt zu werden verblüfft mich immer wieder, daran werde ich mich wohl nie gewöhnen. Das liegt daran, dass einige meiner archäologischen Funde Schlagzeilen gemacht haben. Der Höhepunkt war der Fund eines altertümlichen Pergaments in den Ruinen des Turms von Babel in al-Hilla im Irak vor zwei Jahren. Alle Sender haben Dokumentarbeiträge darüber gebracht, von der BBC und NBC über CNN und den Discovery Channel. Im National Geographic Channel gab es sogar eine Lucifer Week . Meine Kollegen an der Uni Oslo nennen mich den Promi . Schwer zu sagen, ob da Neid mitschwingt, Schadenfreude oder unterdrückte Bewunderung. Jedenfalls bin ich jedes Mal, wenn ein Fremder mich erkennt, überrascht und – das muss ich gestehen – geschmeichelt. Darum schaute ich auch mit einer Mischung aus Verlegenheit und Neugier zu dem Mann auf, der mich angesprochen hatte.
Professor Lorenzo Moretti. Der Testosteronfürst.
Und hinter ihm: die Frau, die ich insgeheim im Auditorium bewundert hatte. Die Göttin aus der achten Reihe.
»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte Professor Moretti mit Zahnpastalächeln. Er streckte die Hand aus. Goldring. Goldarmband. Behaarter Handrücken. Gepflegte Nägel. Manikürt? Ich kaue auf meinen Nägeln. Eine nervöse Angewohnheit, die ich nicht ablegen kann. Mit einer linkischen Bewegung legte ich das iPad auf den Tisch, erhob mich und ergriff seine Hand. Sein Händedruck war so fest, dass es fast schmerzte.
»Es ist mir eine Freude und Ehre, Herr Beltø. Ich habe Sie bereits heute Vormittag im Auditorium gesehen.«
»Die Ehre liegt ganz auf meiner Seite, Professor Moretti!«, antwortete ich auf Italienisch. Eine schöne Sprache. Wie Musik. Ein Süditaliener hat einmal zu mir gesagt, ich spräche wie ein Florentiner. Ich habe es als Kompliment aufgefasst. »Ihr Vortrag hat mir großes Vergnügen bereitet«, fuhr ich fort. »Alte Manuskripte mit Codes, Rebussen und versteckten Botschaften wecken den jugendlichen Abenteurer in mir.«
»Dann können Sie sich auf morgen freuen!« Er blinzelte und trat einen Schritt zur Seite. »Darf ich Ihnen meine Frau Angelica vorstellen.«
Angelica …
Angelica und Lorenzo Moretti. Den Göttern etwas näher als wir übrigen Sterblichen. Sie strahlten. Schön. Erfolgreich. Aftershave und Parfüm harmonierten perfekt. Solch gut aussehende, intelligente Menschen, die das Glanzcover der Vogue schmücken könnten, während sie ihrer Doktorarbeit über den Stellenwert des Higgs-Bosons in der theoretischen Partikelphysik den letzten Schliff geben, erfüllen mich immer mit maßloser Bewunderung.
Angelica Moretti reichte mir anmutig eine mit vielen Ringen geschmückte Hand. Sie trug so viele Armreifen, dass es an ein Wunder grenzte, dass sie überhaupt in der Lage war, den Arm zu heben.
»Ich habe viel über Sie gelesen«, sagte sie. Sie duftete
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