Das Nostradamus-Testament: Thriller (German Edition)
gegeben? Brennende Städte – nichts Ungewöhnliches im Krieg. Aber selbst, wenn sich die Argumente eins nach dem anderen auseinanderpflücken lassen, ist das alles völlig unbedeutend. Diese Verse, die in allen Zeitungen der Welt als Beweis für Nostradamus’ Treffsicherheit zitiert wurden, sind nämlich gar nicht von Nostradamus verfasst worden.«
»Etwas, das alle wissen«, murrte Dino Garbi.
»Die Verse wurden nach dem Terroranschlag 2001 verfasst, von einem Studenten namens Neil Marshall. Er schrieb den Vierzeiler in einem Artikel mit dem Titel Nostradamus. A Critical Analysis . Er hat ihn als Beispiel dafür gebracht, dass jeder selbsternannte Prophet mit allgemeinen und vagen Bildern und Anspielungen einen Text schreiben kann, der im Nachhinein alles und nichts bedeutet.«
Dino Garbi sah aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Dass jemand falsche Verse in seinem Namen erdichtet, kann dem großen Meister nicht angelastet werden. Lassen Sie uns lieber über etwas diskutieren, das unbestreitbar aus der Feder Nostradamus’ stammt: den Großbrand in London 1666! Wie konnte Nostradamus 111 Jahre, ehe das Feuer London in Schutt und Asche legte, den Brand so detailliert beschreiben?«
»Hat er das wirklich getan?«, fragte Professor Moretti.
»Selbstverständlich!«
»Schauen wir uns an, was Nostradamus geschrieben hat – nicht, wie die Nachwelt ihn ausgelegt hat.«
Und wieder zitierte der Professor aus dem Gedächtnis:
Das Blut der Gerechten wird fließen in London,
verbrannt von Blitzschlägen zwanzig mal drei und sechs:
Die alte Dame wird von ihrem hohen Platz stürzen,
derselben Sekte viele werden umgebracht. 1
»Klarer kann es doch nicht gesagt werden!«, triumphierte Dino Garbi.
Professor Moretti faltete die Hände über dem Bauch. »Im Originaltext von Nostradamus steht fouldres und nicht feu , wie in späteren Kopien. Feu bedeutet Feuer, Brand. Fouldres bedeutet Blitzschlag. Wie bekannt, begann der Brand aber in einer Bäckerei, nicht durch einen Blitz. Im Original schrieb Nostradamus die Zahl de vint trois les six und nicht vingt & trois , wie es fälschlicherweise in späteren Ausgaben heißt. Über Multiplizieren und Addieren gelangt man tatsächlich zur Zahl 66, die man mit etwas gutem Willen als das Jahr 1666 lesen kann. Des Weiteren gehen Ihre Gesinnungsgenossen davon aus, dass mit der alten Dame die St.-Pauls-Kathedrale gemeint ist. Aber die Kirche hat nie diesen Namen getragen und ist auch nicht eingestürzt, sondern abgebrannt.«
»Wie deuten Sie dann die Prophezeiung?«, fragte Garbi.
»Das ist keine Prophezeiung, das ist die Schilderung eines Ereignisses, das zu Nostradamus’ Lebzeiten stattgefunden hat. 1555 begann die katholische Königin mit dem Beinamen Bloody Mary« – der Professor schaute mit einem Nicken auf Garbis Drink – »mit einer Säuberungsaktion unter den Protestanten in London. Viele verbrannten auf dem Scheiterhaufen. Die Glücklicheren bekamen einen Beutel mit Pulver an den Körper gebunden und starben bei der Explosion. In seinem Buch über Nostradamus bietet James Randi eine ganz andere Interpretation. Das Blut der Gerechten verweist auf die Protestanten. Die Blitzschläge – fouldres – verweisen auf die Flammen und das explodierende Pulver. Die Zahlen – zwanzig mal drei und sechs – sind ein Hinweis auf die Gruppen von Angeklagten, die im Schnellverfahren zur Hinrichtung verurteilt wurden. Wissen Sie, wie groß die Gruppen waren, die kollektiv verurteilt wurden? Genau: jeweils sechs Personen. Die alte Dame heißt im Original la dame antique . Im damaligen Französisch konnte antique sowohl alt als auch exzentrisch bedeuten. Hätte er die Absicht gehabt, das zu schreiben, was später hineingelesen wurde, hätte Nostradamus vieille dame geschrieben. Aber wenn wir antique in seiner eigentlichen Bedeutung verstehen – exzentrisch, senil –, landen wir wieder bei der verwirrten Bloody Mary. Die von ihrem königlichen Thron stürzte. Und mit der letzten Zeile – derselben Sekte viele werden umgebracht – sind nicht die Bewohner Londons und die Opfer des Brandes gemeint, sondern ganz konkret die Massaker an den Protestanten.«
»Aha.« Dino Garbi richtete lachend den Zeigefinger auf den Professor. »Ein Denkfehler! Nostradamus war loyaler Katholik. Warum sollte er die Protestanten in so wohlwollenden Worten umschreiben? Er war ein treuer Anhänger des Papstes und der katholischen Kirche.«
»Glaubte man! Streng genommen war er Jude. Er war ein
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