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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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ihre Fälle fachkundig, nahm moderate Honorare, zeigte Anteilnahme und hielt sich für die beste Anwältin, wenn es um unberechenbare, unangemesseneGefühle ging. Dass dabei auch gewisse Rachegelüste im Spiel waren, dass sie mit ihrem Schwerpunkt indirekt auch offene Rechnungen beglich, war ihr klar, obschon sie ihr eigenes Leben nicht annähernd so kritisch unter die Lupe nahm wie gezwungenermaßen oftmals das ihrer Klienten.
    Sie schnappte sich einen Bleistift und schlug eine der langweiligen Akten auf, schob sie jedoch ebenso schnell wieder beiseite. Sie ließ den Stift erneut in den Henkelbecher mit der Aufschrift »World’s Best Mom« fallen. Sie hegte hinsichtlich dieser Einschätzung ihre Zweifel.
    Da es nichts wirklich Eiliges gab, das sie zu Überstunden gezwungen hätte, stand sie auf. Sie fragte sich gerade, ob Hope schon zu Hause war und was sie wohl zum Essen gezaubert hatte, als das Telefon klingelte.
    »Sally Freeman-Richards.«
    »Hallo, Sally, Scott am Apparat.«
    Sie war gelinde überrascht, die Stimme ihres Ex zu hören.
    »Hallo, Scott. Ich war gerade auf dem Weg zur Tür …«
    Er stellte sich ihr Kanzleibüro vor. Vermutlich war es ordentlich und gut durchorganisiert, im Gegensatz zu der fröhlichen Anarchie, die in seinem eigenen herrschte. Er fuhr sich kurz mit der Zunge über die Lippen, während er daran denken musste, wie er es hasste, dass sie seinen Nachnamen beibehalten hatte. Sie hatte die Entscheidung damit begründet, dass es die Dinge für Ashley erleichterte, wenn sie älter wurde, obwohl sie ihn mit ihrem eigenen Mädchennamen verbunden hatte.
    »Hast du einen Moment Zeit?«
    »Du klingst besorgt.«
    »Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich Grund dazu, vielleicht auch nicht.«
    »Worum geht’s?«
    »Um Ashley.«
    Sally Freeman-Richards hielt den Atem an. Die wenigen Gespräche, die sie miteinander führten, waren kurz und bündig und drehten sich um Kleinigkeiten, die nach dem Scheitern ihrer Ehe noch zu klären waren. Seit ihrer Trennung vor so vielen Jahren war Ashley das einzig echte Bindeglied zwischen ihnen, und so war es nur noch darum gegangen, ihre Aufenthalte in den beiden Haushalten zu regeln oder die Studiengebühren und die Autoversicherung zu bezahlen. Im Lauf der Zeit hatten sie sich zu einer Art Détente durchgerungen, die es ihnen gestattete, diese Dinge praktisch und zweckdienlich anzugehen. Dabei tauschten sie sich kaum oder gar nicht darüber aus, wie sie sich verändert hatten und warum, als ob ihrer beider Leben in ihrer Erinnerung und in der gegenseitigen Wahrnehmung mit der Scheidung zum Stillstand gekommen sei.
    »Was ist los?«
    Scott Freeman zögerte. Er war sich nicht sicher, wie er das, was ihn bedrückte, angemessen in Worte fassen sollte.
    »Ich hab einen beunruhigenden Brief in ihrer Schublade gefunden«, erklärte er.
    Auch Sally schwieg einen Moment.
    »Wieso bist du an ihre Schublade gegangen?«, fragte sie.
    »Das tut wirklich nichts zur Sache«, erwiderte er. »Fakt ist, ich hab ihn gefunden.«
    »Ich weiß nicht, ob das nichts zur Sache tut«, antwortete Sally.
    »Du solltest ihre Privatsphäre respektieren.«
    Scott war augenblicklich verärgert, beschloss jedoch, es sich nicht anmerken zu lassen. »Sie hat ein paar Socken und Unterwäsche dagelassen. Ich wollte die Sachen in die Schublade legen, da habe ich den Brief entdeckt. Ich hab ihn gelesen. Er hat mich beunruhigt. Vermutlich hätte ich ihn nicht lesen sollen, aber ich hab’s nun mal getan. Was für ein Strafmaß schlägst du vor, Sally?«
    Sally verkniff sich eine Antwort, obwohl ihr mehr als eine einfiel. Stattdessen fragte sie: »Was war das für ein Brief?«
    Scott räusperte sich, ein altes Hörsaalmanöver, um ein bisschen Zeit zu schinden, bevor er einfach sagte: »Hör zu.« Er las ihr den Brief vor.
    Als er fertig war, schwiegen sie beide eine Weile.
    »Gar so schlimm klingt er eigentlich nicht«, sagte Sally schließlich. »Wie’s aussieht, hat sie einen heimlichen Verehrer.«
    »Einen heimlichen Verehrer. Das hört sich seltsam viktorianisch an.«
    Sie ignorierte seinen Sarkasmus und erwiderte nichts.
    Scott wartete einen Moment, bevor er fragte: »Aus deiner Sicht, mit deiner Erfahrung, mit all den Fällen, die du schon hattest, findest du das nicht unterschwellig obsessiv? Zwanghaft vielleicht? Was für eine Persönlichkeit schreibt einen solchen Brief?«
    Sally holte tief Luft und fragte sich insgeheim dasselbe.
    »Hat sie dir gegenüber irgendwas erwähnt? Etwas in

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