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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Giftzähnen einer Schlange zu enden. Wie zum Gebet beugte er sich, die Nadel in der Hand, herab. Doch bevor er sich an die Arbeit machte, zögerte er, sah auf und fragte: »Sind Sie auch ganz sicher, Mann?«
    »Ja«, antwortete Michael O’Connell.
    »Das Tattoo hab ich nämlich noch keinem verpasst.«
    »Dann wird’s Zeit«, erwiderte O’Connell steif.
    »Mann, ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun«, brummte der Künstler. »Wird ein paar Tage brennen.«
    »Ich weiß immer, was ich tue«, erwiderte O’Connell. Er biss gegen den Schmerz die Zähne zusammen und lehnte sich im Behandlungsstuhl zurück. Er starrte nach unten und sah zu, wie der Bulle mit dem Muster begann. Michael O’Connell hatte sich für ein von einem schwarzen Pfeil durchbohrtes scharlachrotes Herz entschieden, aus dem blutrote Tränen tropften. In der Mitte des getroffenen Herzens sollten die Initialen AFstehen. Das Ungewöhnliche an dem Tattoo war die Körperstelle, für die es bestimmt war. Er sah, dass es den Künstler Überwindung kostete. Offenbar fiel es dem Mann schwerer, das Herz und die Initialen auf dem Ballen von O’Connells rechtem Fuß einzutätowieren, als es ihm selbst fiel, sein Bein hochzuhalten und nicht zu bewegen.
    Als ihm die Nadel in die Haut drang, wartete O’Connell. Es ist eine empfindliche Stelle, an der man vielleicht ein Kind kitzeln oder eine Geliebte streicheln würde. Oder auf ein Insekt treten würde. Die Stelle passte perfekt zu der Vielschichtigkeit seiner Gefühle.
     
    Michael O’Connell war ein Mann mit wenig Kontakt zur Außenwelt, der gleichsam mit dicken Tauen, scharfen Drähten und festen Schließriegeln in sein Inneres eingezwängt wurde. Er war knapp unter einem Meter achtzig groß und hatte kräftiges, lockiges, dunkles Haar. Viele Stunden Gewichtheben und Ringen an der Highschool hatten ihm breite Schultern und eine schmale Taille beschert. Er wusste, dass er gut aussah, dass die Art, wie er die Augenbrauen hochzog oder lässig auf der Bildfläche erschien, ihre Wirkung nicht verfehlte. Er kultivierte legere Kleidung, in der er umgänglich und freundlich erschien; er bevorzugte Fleece gegenüber Leder, um unter den Studenten nicht aufzufallen, und mied alles, was seine Herkunft verraten konnte, etwa zu enge Jeans oder T-Shirts mit aufgerollten Ärmeln. Er lief die Boylston Street Richtung Fenway entlang und genoss die Vormittagsbrise. Es lag schon ein wenig November in der Luft, der Wind wehte in Böen abgefallene Blätter und Unrat übers Pflaster. Er schmeckte die würzige Frische von New Hampshire, die ihn an seine Jugend erinnerte.
    Sein Fuß tat weh, doch es war ein angenehmer Schmerz.
    Der Tattookünstler hatte ihm ein paar Tylenol gegeben und sterilen Mull auf das Muster gelegt, O’Connell allerdings gewarnt, dass der Druck beim Laufen ziemlich schmerzen würde. Das ging in Ordnung, auch wenn er für ein paar Tage ein bisschen verkrüppelt war.
    Bis zum Campus der Boston University war es nicht mehr weit, und er kannte eine Bar, die früh öffnete. Ein wenig vornübergebeugt humpelte er in eine Nebenstraße und versuchte, den Schmerz auszutarieren, der mit jedem Schritt hochschoss. Es hatte etwas Spielerisches. Bei diesem Schritt reicht der Schmerz bis zum Knöchel. Beim nächsten bis zur Wade. Kann er auch bis ins Knie oder höher stechen? Er drückte die Bartür auf und blieb einen Moment stehen, bis sich seine Augen an das verrauchte Schummerlicht gewöhnt hatten.
    An der Bar saßen ein paar ältere Männer über ihren Schnaps gebeugt. Stammgäste, nahm er an, Männer, die sich von einem Gläschen zum nächsten hangelten.
    O’Connell ging hinüber, knallte ein paar Scheine auf die Theke und winkte den Barkeeper heran.
    »Bier und ’nen Kurzen«, bestellte er.
    Der Barkeeper brummte etwas, zapfte gekonnt ein kleines Glas Bier mit einer Schaumkrone von einem halben Zentimeter und füllte ein Gläschen mit bernsteinfarbenem Scotch. O’Connell kippte den Scotch, so dass er ihm in der Kehle brannte, und nahm einen großen Schluck Bier. Er deutete auf das Glas.
    »Dasselbe noch mal«, sagte er.
    »Lass erst die Kohle sehen«, erwiderte der Mann an der Bar.
    O’Connell zeigte mit dem Finger auf sein Bier. »Dasselbe noch mal«, wiederholte er.
    Der Barkeeper sagte nichts. Er hatte sich bereits klar ausgedrückt.
    O’Connell zuckten ein halbes Dutzend passende Antworten durch den Kopf, allesamt Auftakt zu einer Schlägerei. Er merkte, wie ihm das Adrenalin in den Ohren pochte und wie er

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