Das Opfer
diese Richtung?«, hakte Scott nach.
»Nein.«
»Du bist ihre Mutter. Würde sie nicht zu dir kommen, wenn sie irgendwelche Männerprobleme hätte?«
Der Ausdruck »Männerprobleme« durchzuckte sie wie ein Blitz, und sie weigerte sich, auf die Wut, die plötzlich zwischen ihnen schwang, zu reagieren.
»Ja, ich denke schon. Hat sie aber nicht.«
»Na schön, als sie letzte Woche da war, hat sie da irgendwas gesagt? Ist dir an ihrem Verhalten irgendetwas aufgefallen?«
»Auf beide Fragen nein. Und du? Sie war immerhin auch ein paar Tage bei dir …«
»Nein, ich hab sie kaum zu Gesicht bekommen. Sie war dauernd mit Freunden von der Highschool unterwegs. Du weißtschon, zum Abendessen weg, um zwei Uhr morgens wieder da, irgendwann mittags aufgestanden, durchs Haus getappt und das Ganze wieder von vorne.«
Sally Freeman holte tief Luft. »Also, Scott, ich glaube nicht, dass uns das allzu sehr aus der Fassung bringen sollte. Falls sie ein Problem hat, dann wird sie es früher oder später bei einem von uns zur Sprache bringen. Wir sollten ihr vielleicht einfach Zeit lassen. Und ich weiß auch nicht, ob es sinnvoll ist, ein Problem zu sehen, wo es vielleicht keines gibt. Warten wir ab, ob sie etwas sagt. Ich denke, du hörst die Flöhe husten.«
Was für eine vernünftige Antwort, dachte Scott. Sehr aufgeklärt. Sehr liberal. So ganz im Einklang mit ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Und so absolut falsch.
Sie stand auf, ging zu einem antiken Schrank in der Ecke des Wohnzimmers und ließ sich eine Sekunde Zeit, um einen chinesischen Teller auf seinem Ständer zurechtzurücken. Als sie zurücktrat, um ihre Korrektur zu begutachten, runzelte sie unwillkürlich die Stirn. In der Ferne hörte ich Kinder spielen. Doch in dem Zimmer, in dem wir uns unterhielten, lag nur knisternde Spannung.
»Woher will Scott wissen, dass da etwas nicht stimmt?«, gab sie meine Frage an mich zurück.
»Eben. Der Brief könnte, so wie Sie ihn wiedergeben, alles Mögliche bedeuten. Seine Exfrau hat gut daran getan, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.«
»Eine Reaktion, die einer Anwältin würdig ist, oder?«, fragte sie.
»Falls Sie damit meinen, vorsichtig, würde ich sagen, ja.«
»Und finden Sie, auch klug?«, hakte sie nach. Sie winkte ab. »Er wusste es, weil er es wusste, weil er es wusste. Wahrscheinlich so eine Art Instinkt, auch wenn wir uns damit die Sache zu einfachmachen. Vielleicht dieser letzte Rest von animalischem sechsten Sinn, der rudimentär noch in uns allen steckt, Sie wissen schon, dieses dumpfe Gefühl, dass was nicht stimmt.«
»Das scheint mir ein bisschen weit hergeholt.«
»Finden Sie? Haben Sie schon mal einen von diesen Tierfilmen über die Serengeti in Afrika gesehen? Wie oft fängt die Kamera ein Tier ein, das plötzlich alarmiert den Kopf hebt? Ich kann zwar noch kein Raubtier ausmachen, das irgendwo in der Nähe auf der Lauer liegt, aber …«
»Na schön, nehmen wir für einen Moment an, Sie hätten recht. Ich kann trotzdem nicht sehen, wie …«
»Nun ja«, unterbrach sie mich. »Wenn Sie den Mann kennen würden, vielleicht schon.«
»Sicher, das würde vermutlich helfen. Hatte Scott nicht dasselbe Problem?«
»Allerdings. Nur dass er anfänglich praktisch gar nichts wusste. Er hatte keinen Namen, keine Adresse, kein Alter, keine Beschreibung, keinen Führerschein, keine Sozialversicherungskarte oder irgendeine Information über seine berufliche Tätigkeit in der Hand. Nichts. Alles, was er hatte, war eine Gefühlsäußerung auf einem Blatt Papier und eine tiefsitzende, diffuse Sorge.«
»Angst.«
»Ja, Angst. Ist das nicht die schlimmste Angst? Vor einer undefinierbaren, unbekannten Gefahr? Keine leichte Situation, nicht wahr?«
»Sicher. Die meisten Menschen würden gar nichts tun.«
»Dann war Scott anders als die meisten.«
Ich schwieg, und sie holte tief Luft, bevor sie sagte: »Wenn er allerdings da schon, direkt zu Anfang, gewusst hätte, mit wem er es zu tun hatte, dann hätte er vielleicht …« Sie hielt mitten im Satz inne.
»Was?«
»Nicht weitergewusst.«
2
Ein Mann mit ungewöhnlich großen Aggressionen
Die Nadel des Tätowierers sirrte so durchdringend wie eine Hornisse. Der Mann, der sich mit der Nadel über ihn beugte, war ein untersetzter Muskelprotz. An seinen Armen rankten sich mehrfarbige verschlungene Muster wie Efeu empor und breiteten sich von dort aus über die Schultern und um den Hals, um unterhalb seines linken Ohrs in den entblößten
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