Das Orakel des Todes
einzelnen Mordes, sondern des vielfachen Mordes. Ferner beschuldige ich dich des Sakrilegs. Du hast das Orakel falsche Weissagungen abgeben lassen, und zwar einzig und allein mit dem Ziel, deine Opfer in eine tödliche Falle zu locken. Als ob das der Schande noch nicht genug wäre, hast du die Leichen beseitigen lassen, ohne ihnen die erforderlichen Bestattungsriten zukommen zu lassen, und all das an einem Ort, der seit Jahrhunderten als heilig gilt. Was hast du zu dieser Anklage zu sagen?“
Sie schien einen Kloß im Hals zu haben, als sie antwortete. „Nicht schuldig, Praetor.“
„Etwas anderes hatte ich von dir auch nicht erwartet. Stell dich da hinten zu den anderen Frauen deiner Gruppe, abseits der Männer!“ Verblüfft folgte sie meinem Befehl.
„Bürger“, fuhr ich fort, „ich präsentiere euch jetzt die Einzelheiten eines Falls, der für die Verbrechen typisch ist, die hier an der Tagesordnung standen. Vor zehn Jahren lebte in Stabiae ein Ölimporteur namens Lucius Terentius, Einmal im Jahr unternahm er eine große Reise, um seine Lieferanten im Ausland aufzusuchen. Bevor er eine Reise antrat, suchte er, wie viele andere Reisende auch, jedes Mal den Rat des hiesigen Orakels. Doch jenes Mal war sein Besuch des Heiligtums der Hekate sein Verderben. Ich rufe die Zeugin Floria auf, Freigelassene des Terentius.“
Die Frau wurde herausgeführt und musste den Furcht erregenden Eid ablegen, der den Zorn der Götter auf Meineidige herab beschwört. Ich persönlich habe noch nie erlebt, dass jemand für das Schwören eines Meineids von den Göttern zur Rechenschaft gezogen wurde, schlimmstenfalls wird man erwischt und kann sich nicht durch Bestechung aus der Affäre ziehen. Trotzdem bin ich der Meinung, dass der Schwur nicht schadet und zumindest einige Leute dazu bewegt, die Wahrheit zu sagen.
„Floria“, wandte ich mich ihr zu, „berichte dem Gericht genau, was passierte, als dein ehemaliger Herr an diesen Ort kam, und was sich danach zutrug!“
Sie erzählte ihre Geschichte im Großen und Ganzen genauso, wie sie sie mir erzählt hatte. Anfangs war ihre Stimme schwach, und ich musste sie bitten, lauter zu sprechen. Als sie schließlich begriff, dass sie wirklich nicht gefoltert oder misshandelt werden würde, gewann sie Vertrauen, und ihre Stimme wurde fester. Ihre Aussage war viel wirkungsvoller als eine einstudierte Rede, und ich stellte zufrieden fest, dass viele der Zuschauer zu glauben begannen, dass an meinen Vorwürfen etwas dran war.
„Gut gemacht, Floria“, lobte ich sie, als sie fertig war. „Ich möchte jetzt, dass du dorthin gehst“, ich zeigte auf die Gruppe schwarz gewandeter Frauen, „und dem Gericht sagst, ob du die Sklavin wieder erkennst, die dir in so niederträchtiger Absicht wichtige Informationen über deinen Herrn entlockt hat.“
Sie steuerte langsam auf die Frauen zu. „Ich bin nicht sicher, Praetor. Das Ganze liegt zehn Jahre zurück.“
„Sieh dir die Frauen einfach gründlich an, und prüfe, ob du sie wieder erkennst.“
Floria nahm die Frauen eine nach der anderen sorgfältig ins Visier. Plötzlich hielt sie inne und schnappte nach Luft. Sie zeigte auf Iola. „Das ist sie, Praetor!“
„Bist du ganz sicher, dass du dich nicht irrst, Floria?“ „Ich bin absolut sicher, Praetor! Jetzt, da sie vor mir steht, habe ich das Gefühl, sie erst gestern gesehen zu haben.“
„Vielen Dank, Floria. Du kannst gehen.“
„Da seht ihr, Bürger“, wandte ich mich wieder der Menge zu, „wie die Opfer ausgewählt und betrogen wurden. Diejenigen, auf die sie es abgesehen hatten, wurden nicht in die Orakelkammer an dem unterirdischen Fluss geführt, sondern in das Heiligtum der Hekate, und dort hörten sie dann die falsche Weissagung, von der sie glaubten, dass sie von Hekate selbst verkündet wurde. Wie sie diese Täuschung vollbrachten, werdet ihr jetzt erfahren. Ich rufe den Vorsteher der Vereinigung der Steinmetze, Ansidius Perna, auf.“ Der Mann trat vor und leistete den Eid. „Perna, erkläre diesem Gericht das Belüftungssystem, über das der unterirdische Tunnel mit Frischluft versorgt wird.“
Ohne Umschweife erläuterte Perna, wie ein zweiter Tunnel, der über dem ersten verlief, für frische Luft sorgte. Als er fertig war, entließ ich ihn.
„Ansidius Perna und seine Arbeiter haben mir einen Zu gang zu dem oberen Tunnel in den Stein geschlagen. Bei der Erkundung dieses zweiten Tunnels war er nicht dabei, ich habe ihn mit einigen meiner Männer
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