Das Orakel vom Berge
während seiner Anstrengungen, Japan zu besiegen. Er würde von den Vereinigten Staaten kommen. Und um 1950 schwärmten tatsächlich amerikanische Techniker und Ingenieure, Lehrer, Ärzte und Agronomen wie Lebewesen einer neuen Art in jede Provinz, jedes…
Joe unterbrach sie: »Du weißt doch, was er gemacht hat, oder? Er hat sich das Beste vom Nazismus genommen, den sozialistischen Teil, die Organisation Todt und die wirtschaftlichen Fortschritte, die wir durch Speer erzielt haben – und wem schreibt er es zu? Dem New Deal. Und das Schlimmste hat er herausgelassen. Die SS. Die Rassenvernichtung und die Rassentrennung. Das ist eine Utopie! Bildest du dir denn ein – angenommen, die Alliierten hätten gesiegt –, daß dann der New Deal wirklich die Wirtschaft wieder hätte aufwecken und die sozialistischen Wohlfahrtspläne verwirklichen können, von denen er schreibt? Verdammt noch mal, nein; er redet da von einer Art Staatssyndikalismus, dem Firmenstaat, so wie wir ihn unter dem Duce entwickelt haben. Er sagt hier nichts anderes, als daß wir all das Gute und nichts von dem Schlechten…«
»Laß mich weiterlesen«, meinte sie ungeduldig.
Er zuckte die Schultern. Aber er sagte nichts mehr, und sie las wieder weiter, diesmal aber leise.
… und die Märkte, die zahllosen Millionen Chinas ließen die Fabriken in Detroit und Chicago auf Hochtouren arbeiten; dieser unersättliche Mund konnte nie gefüllt werden, nicht einmal in hundert Jahren konnte man diesen Leuten genügend LKWs oder Ziegelsteine oder Stahlbleche oder Kleider oder Schreibmaschinen oder Erbsen in Dosen oder Nasentropfen geben. Im Jahre 1960 hatte der amerikanische Arbeiter den höchsten Lebensstandard in der ganzen Welt, und alles das nur wegen jener Klausel in allen Verträgen mit dem Osten, die so harmlos ›Meistbegünstigungsklausel‹ hieß. Die USA hatten die Besetzung Japans aufgegeben und China nie in Besitz gehalten, und doch ließ sich eines nicht wegdiskutieren: Kanton und Tokio und Shanghai kauften nicht mehr von den Briten; sie kauften von den Amerikanern. Und mit jedem Abschluß sah der Arbeiter in Baltimore oder Los Angeles oder Atlanta einen kleinen Zuwachs seines Wohlstandes.
Den Planern, den weitsichtigen Männern im Weißen Haus schien es, daß sie ihr Ziel beinahe erreicht hatten. Bald würden die Forschungsraumschiffe vorsichtig in das All hinausstoßen, von einer Welt, die endlich ein Ende ihrer uralten Sorgen erlebt hatte: Hunger, Pestilenz, Krieg, Ignoranz. Im Britischen Empire hatten ähnliche Maßnahmen, die dem sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt dienten, den Massen in Indien, Burma, Afrika und dem Mittleren Osten ähnliche Erleichterung gebracht. Die Fabriken im Ruhrgebiet, in Manchester und an der Saar, das Öl von Baku, sie alle liefen auf Hochtouren, in einer komplizierten, aber wirksamen Harmonie, in der das Ganze mehr war als die Summe der einzelnen Teile; die Völker Europas sonnten sich in…
»Ich finde, daß sie die Herrscher sein sollten«, sagte Juliana und hielt inne. »Die haben das immer am besten verstanden. Die Briten.«
Joe sagte nichts, obwohl sie offenbar auf Antwort wartete. Und dann las sie weiter.
… eine Verwirklichung von Napoleons Vision: eine auf Vernunft begründete Homogenität der verschiedenen Volksgruppen, die seit dem Zusammenbruch Roms Europa nicht mehr hatten zum Frieden kommen lassen. Und auch die Vision Karls des Großen: eine vereinigte Christenheit im Frieden nicht nur mit sich selbst, sondern mit dem Rest der Welt. Und doch – eine offene Wunde gab es noch.
Singapur. Die Malaienstaaten hatten eine umfangreiche chinesische Bevölkerung, die hauptsächlich der unternehmungslustigen Klasse der Geschäftsleute angehörte. Und diese sparsamen, fleißigen Bourgeois sahen in der amerikanischen Verwaltung Chinas eine wesentlich gerechtere Behandlung dessen, was ›die Eingeborenen‹ genannt wurde. Unter der britischen Herrschaft waren die dunkelhäutigen Rassen von den Country-Clubs, den Hotels und den besseren Restaurants ausgeschlossen; sie waren, wie in archaischen Zeiten, auf bestimmte Eisenbahn- und Busabteile beschränkt. Diese ›Eingeborenen‹ erkannten und diskutierten in ihren Unterhaltungen bei Tisch und in ihren Zeitungen, daß in den USA das Rassenproblem um 1950 gelöst worden war. Weiße und Neger lebten und arbeiteten und aßen Schulter an Schulter, selbst im tiefen Süden; der Zweite Weltkrieg hatte der Rassendiskriminierung ein Ende gemacht…
»Gibt es
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