Das Orakel vom Berge
verstehe eine ganze Menge von Musik; ich will dir zeigen, wer ein großer Dirigent war. Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht an ihn. Arturo Toscanini.«
»Nein«, sagte sie, ohne mit Lesen aufzuhören.
»Er war Italiener. Aber die Nazis ließen ihn nach dem Krieg nicht mehr dirigieren, wegen seiner politischen Überzeugung. Jetzt ist er tot. Ich mag diesen von Karajan nicht, der die New Yorker Philharmoniker dirigiert. Wir mußten immer seine Konzerte besuchen, unser ganzer Schlafsaal. Kannst dir ja denken, welchen Spaß das mir als Itaker gemacht hat.« Er sah sie an. »Gefällt dir dieses Buch?« fragte er.
»Es packt einen so richtig.«
»Ich mag Verdi und Puccini. Wir kriegen ja in New York immer nur diese schwere, bombastische Wagner- und Orff-Musik und müssen jede Woche zu einem dieser dramatischen Spektakel der U. S. Nazipartei im Madison Square Garden gehen. Immer wieder Fahnen und Trommeln und Trompeten, und im Hintergrund eine flackernde Flamme. Die Geschichte der Gotenstämme oder solcher belehrender Scheiß, das Ganze natürlich gesungen und nicht gesprochen, damit man es ›Kunst‹ nennen kann. Hast du je New York vor dem Kriege zu sehen bekommen?«
»Ja«, sagte sie und versuchte weiterzulesen.
»Waren die Theater damals nicht Klasse? Wenigstens habe ich das gehört. Und jetzt ist es genauso wie mit der Filmindustrie; das Ganze ein einziges Kartell in Berlin. In den dreizehn Jahren, die ich in New York gelebt habe, kein einziges neues gutes Musical oder Theaterstück, nur diese…«
»Laß mich lesen«, sagte Juliana.
»Und mit Büchern ist es genauso«, sagte Joe unbeirrt. »Ein Kartell in München. In New York wird nur gedruckt; bloß große Druckpressen – aber vor dem Kriege war New York das Zentrum der Verlagsindustrie der Welt, wenigstens heißt es das immer.«
Juliana hielt die Heuschrecke in der Hand und hatte jetzt gerade die Stelle erreicht, die sich mit dem märchenhaften Fernsehen befaßte. Sie war ganz fasziniert; besonders die Stelle, die sich mit den billigen kleinen Geräten für die rückständigen Völker in Afrika und Asien befaßte, interessierte sie.
… nur dank dem technischen Können der Yankees und ihren Massenproduktionssystemen – Detroit, Chicago, Cleveland, jene magischen Namen! – hatten sie es schaffen können, daß jene endlose und geradezu wohltätige Flut billiger Ein-Dollar- (und zwar Handelsdollars, Chinadollars) Fernsehgeräte in jedes Dorf und jedes Nest des Orients strömte. Und wenn irgendein hagerer junger Bursche mit fiebrigen Augen das Gerät zusammengebastelt hatte, ein Mensch, der nach einer Chance hungerte, der auf das angewiesen war, was die großzügigen Amerikaner ihm anboten, dann begann dieses blecherne kleine Gerät mit seiner eingebauten Energieversorgung, die nicht viel größer war als eine Murmel, zu empfangen. Und was empfing es? Vor dem Bildschirm kauernd sahen die jungen Leute des Dorfes und oft auch die älteren – Worte. Anweisungen. Zuerst, wie man lesen sollte. Und dann den Rest: wie man tiefere Gräben graben konnte, tiefere Furchen pflügen. Wie man das Wasser säuberte, die Kranken heilte. Und über ihnen kreiste der künstliche Mond der Amerikaner. Verteilte die Signale, reichte überall hin… zu all den wartenden gierigen Massen des Ostens.
»Liest du es ganz?« fragte Joe. »Oder blätterst du darin herum?«
Und sie sagte: »Das ist wunderbar. In diesem Buch schicken wir Lebensmittel und Erziehung zu all den Asiaten, all den Millionen.«
»Wohlfahrtsarbeit, weltweit gesehen«, sagte Joe.
»Ja. Der New Deal unter Tugwell; sie heben das Niveau der Massen damit an. Hör zu.« Und sie las Joe vor:
… was war China denn gewesen? Ein halb verhungerndes gieriges Wesen, das zum Westen aufblickte, und sein großer demokratischer Präsident, Tschiang Kai Schek, der das chinesische Volk durch die Jahre des Krieges jetzt in die Jahre des Friedens geführt hatte, in die Dekade des Wiederaufbaus. Aber für China war es kein Wiederaufbau, denn jenes beinahe unnatürlich weite, flache Land war nie aufgebaut gewesen, schlummerte immer noch in einem uralten Traum. Eine Dekade des Erwachens, ja, der Riese mußte sich endlich seiner eigenen Kräfte bewußt werden, mußte erwachen, seinen Platz in der modernen Welt mit ihren Düsenflugzeugen und der Atomkraft, ihren Autobahnen und Fabriken und medizinischen Wundern einnehmen. Aber woher sollte der Donnerschlag kommen, der den Riesen weckte? Tschiang hatte es gewußt, selbst
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