Das Orakel vom Berge
Ärger?« fragte Juliana Joe.
Er knurrte bloß, wandte aber den Blick nicht von der Straße.
»Sag mir, was passiert«, sagte sie. »Ich weiß, daß ich es nicht zu Ende lesen kann; wir sind ziemlich bald in Denver. Kommt es zu einem Krieg zwischen den Amerikanern und den Briten? Beherrscht am Ende einer von beiden die Welt?«
Und plötzlich sagte Joe: »In gewisser Weise ist es kein schlechtes Buch. Er arbeitet alle Einzelheiten aus; die Vereinigten Staaten beherrschen den Pazifik. Dabei kommt etwas Ähnliches heraus wie unsere großasiatische Sphäre gemeinsamen Wohlstands. Sie teilen Rußland auf. Es funktioniert etwa zehn Jahre lang. Und dann gibt es Ärger – natürlich.«
»Warum natürlich?«
»Die Natur des Menschen«, erklärte Joe. »Die Natur der Staaten. Argwohn, Angst, Gier. Churchill glaubt, die USA unterhöhlten die britische Herrschaft über Südostasien, indem sie an die chinesischen Volksgruppen appellierten, die natürlicherweise pro-amerikanisch eingestellt sind, wegen Tschiang Kai Schek. Die Briten fangen an« – er drehte sich halb zu ihr herum und grinste –, »etwas einzurichten, was sie ›Internierungsreservate‹ nennen, Konzentrationslager also mit anderen Worten. Für Tausende möglicherweise illoyaler Chinesen. Man wirft ihnen Sabotage und Propaganda vor. Churchill ist so…«
»Du meinst, er ist immer noch an der Macht? Müßte der nicht um die Neunzig sein?«
Joe nickte. »Das ist ja der Vorteil, den das britische System gegenüber dem amerikanischen hat. Alle acht Jahre versetzen die USA ihren Führern einen Tritt, gleichgültig, wie tüchtig sie sind – aber Churchill bleibt im Amt. Die USA haben nach Tugwell keine Führung mehr, die ihm gliche. Nur Nullen. Und je älter er wird, desto autokratischer, desto sturer – Churchill meine ich. Bis er um 1960 so etwas Ähnliches ist wie ein alter Warlord aus Zentralasien; niemand kann es mehr mit ihm aufnehmen. Er ist dann zwanzig Jahre an der Macht.«
»Großer Gott«, sagte sie und blätterte in dem Buch, wie um eine Bestätigung dessen zu finden, was Joe sagte.
»Aber dem muß ich beipflichten«, sagte Joe. »Churchill war der einzige gute Führer, den die Briten während des Krieges hatten; hätten sie ihn behalten, wären sie besser dran gewesen. Ich kann dir sagen, ein Staat ist nicht besser als sein höchster Beamter. Das Führerprinzip – wie die Nazis es nennen. Sie haben recht. Selbst dieser Abendsen muß sich damit abfinden. Natürlich, die USA dehnen sich wirtschaftlich aus, nachdem sie den Krieg gegen Japan gewonnen haben, weil sie diesen riesigen Markt in Asien haben, den sie den Japanern abgenommen haben. Aber das reicht nicht aus; spirituell steckt nichts dahinter. Nicht, daß die Briten so etwas hätten. Beides sind Plutokratien. Eine Herrschaft der Reichen. Wenn sie den Krieg gewonnen hätten, hätten sie an nichts anderes gedacht, als wie man mehr Geld machen kann, diese Oberklasse. Abendsen hat in diesem Punkt unrecht; es würde keine sozialen Reformen geben, keine öffentlichen Wohlfahrtsprojekte – die angelsächsischen Plutokraten hätten das nicht zugelassen.«
Wie ein Faschist gesprochen, dachte Juliana.
Offenbar merkte Joe an ihrem Gesichtsausdruck, was sie dachte, und wandte sich zu ihr, fuhr langsamer, ein Auge auf sie, eines auf die Wagen vor ihnen gerichtet. »Hör zu, ich bin kein Intellektueller – der Faschismus braucht so etwas nicht. Was er braucht, ist die Tat . Theorien werden von Taten abgeleitet. Was unser Körperschaftsstaat von uns verlangt, ist Verständnis für die sozialen Kräfte – Verständnis der Geschichte. Verstehst du? Ich weiß das, Juliana.« Seine Stimme klang ernst, beinahe flehend.
»Diese alten verrotteten, vom Geld geleiteten Reiche, Großbritannien und Frankreich und die USA, wenn auch die USA nur eine Art von Bastard sind, nicht im wahren Sinne des Wortes, ein Empire, aber trotzdem geldorientiert. Sie hatten keine Seele, also natürlicherweise auch keine Zukunft. Kein Wachstum. Die Nazis sind eine Rotte von Straßenräubern; das gebe ich zu. Gibst du das auch zu? Stimmt’s?«
Sie mußte lächeln; jetzt war der Italiener in ihm durchgekommen.
»Abendsen tut so, als ob es furchtbar wichtig wäre, ob nun die USA oder Großbritannien am Ende siegen. Quatsch! Völlig unwichtig. Hast du je gelesen, was der Duce geschrieben hat? Das war voll Inspiration. Ein herrlicher Mann. Und ein herrliches Buch. Es beschreibt die Aktualität, die jedem Ereignis zugrundelag.
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