Das Orakel von Margyle
geworden waren. Mehr als einmal hatte sie sich gefragt, warum das Schicksal nicht ihn zum Wartenden König auserkoren hatte.
Doch sie kannte auch die andere Seite Lord Idrygons, sie wusste, wie rücksichtslos und machthungrig er war.
“Was soll sie denn schon sagen?” In Idrygons Stimme knisterte der Zorn. “Vergesst nicht, sie ist eine von
ihnen.”
“Hütet Eure Zunge!”, schrie Rath und schüttelte drohend den Stab in seine Richtung. “Reizt mich nicht, den Wunsch an Euch zu verschwenden!”
Idrygon erbleichte und presste die Lippen zusammen, während er Maura einen wutentbrannten Blick zuwarf.
Welchen Rat sollte sie Rath geben? Der von Idrygon vorgeschlagene Handel reizte sie genau wie ihn, doch der Preis dafür ließ ihr Herz erstarren. Ihre Reisen hatten sie gelehrt, dass viele Han unschuldig waren. Doch wenn sie Rath drängte, Gnade walten zu lassen, wäre das dann ein Verrat an ihrem umbrischen Erbe?
“Habe keine Angst, dein Schicksal zu akzeptieren,
Aira”
, sagte sie und ignorierte Idrygons mörderisch finstere Miene. “Gerade wegen deiner nicht makellosen Vergangenheit bist du vielleicht ein besserer König. Als ich in dem Bestienberg den Echtroi bekämpfte, wurde mir klar, dass ich eine gute Königin sein kann, weil ich mich nicht nach der Macht verzehre. Ich glaube, das trifft auch auf dich zu. Die besten Anführer sind die, die ihrem Volk dienen, nicht die, die es beherrschen.”
“Sire …”, protestierte Idrygon.
“Ruhe!”, schrie Rath. “Lasst sie ausreden.”
Vielleicht hatte sie schon zu viel gesagt. Zu oft, seitdem ihr Schicksal mit dem seinen verflochten war, hatte sie ihn gezwungen, ihr zu folgen. Aber hier ging es nicht länger nur um ihr Schicksal. Sie hatte nicht das Recht, Rath die Verantwortung und die Entscheidungsfreiheit abzunehmen. Sie durfte ihm nicht die Chance nehmen, selbst zu wählen und durch eigene Kraft zum Helden zu werden. Und deswegen fielen ihr die nächsten Worte schwerer als alles, was sie jemals gesagt hatte. “Es muss deine Wahl sein,
Aira.
Ich glaube daran, dass du den richtigen Weg einschlagen wirst. Wie immer du auch entscheidest, ich garantiere dir meine Liebe und meine Unterstützung.”
“Mylords!” Einer von Vangs Männern stürzte in die Große Halle. “Man bittet mich, Euch zu holen. Die Han versuchen, den Wald von Aldwood anzuzünden.”
Mauras Blick flog zu Rath. Sie sah, wie seine Hand sich um den Stab krampfte, und flehte zum Allgeber, ihn zu leiten.
Idrygon war so schnell, dass sie erst zu spät bemerkte, wie er sie an sich zog. In seiner Hand blitzte eine kurze Klinge. Allem Anschein nach vertraute er nicht länger auf seine Überredungskunst. “Stellt Euch mir nicht in den Weg, Gesetzloser! Oder Ihr werdet ein König ohne Königin sein.”
Obwohl Maura wusste, dass Idrygon imstande war zu tun, was er androhte, packte sie die heilige Wut und fegte alle Furcht beiseite. Nachdem sie sich zu der schweren Entscheidung durchgerungen hatte, Rath frei wählen zu lassen, würde sie niemandem erlauben, ihn daran zu hindern.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Delyon nach vorn stürzte. “Tu das nicht, Bruder!”
“Halt du dich da raus, du frommer Narr!”, schrie Idrygon, war aber einen Moment lang abgelenkt. Es war der Moment, den Maura brauchte.
“Ich habe bessere Männer als Euch bereuen lassen, dass sie mich gepackt hatten.” Sie sprang hoch und hieb mit dem Hinterkopf hart gegen Idrygons Kinn. Der ließ einen unterdrückten Schmerzenslaut hören und lockerte seinen Griff. Maura flüchtete aus seiner Reichweite, während Delyon seinem Bruder das Messer aus der Hand schlug.
“Jetzt, Rath”, rief Maura. “Benütze den Stab!”
So viel hing von seiner Entscheidung ab. So viele Leben auf beiden Seiten. Und er hatte keine Zeit mehr, über seine Entscheidung nachzudenken. Rath wusste nur, dass er weder das Recht noch die Fähigkeit besaß, sich einer solch furchtbaren Kraft zu bedienen. Durfte das überhaupt irgendein Mensch?
Velorkens Stab umklammernd äußerte er den einzigen Wunsch, dem er vertrauen konnte, auch wenn er nicht wusste, was daraus entstehen würde. “Allgeber,
dein
Wille geschehe. Das ist mein Wunsch.”
Maura schlang die Arme um ihn. “Ich bin so glücklich, dass ich dich nicht beeinflusst habe. Mir wäre das nie eingefallen. Doch als ich dich die Worte sagen hörte, wusste ich, dass es die richtigen sind.”
Wenn er sich auch nur so sicher sein könnte. Wenn er überhaupt
etwas
fühlen würde. Eine
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