Das Paradies am Fluss
dass dies Jess und nicht Juliet ist. Sie fühlt sich ziemlich schwach, und ihr Herz schlägt unregelmäßig.
Johnnie steht wieder neben ihr. »Ich trage dir dein Geschirr«, sagt er.
Er hilft ihr zu ihrem Stuhl und reicht ihr Glas und Teller, und wie immer ärgert sie seine Freundlichkeit, und sie wünscht sich sehnlichst, Al wäre da und würde ihr eine witzige, bissige Bemerkung ins Ohr flüstern, die nur sie hören kann.
Schließlich sind sie alle versammelt, essen und reden. Johnnie erzählt Jess die Familiengeschichte und spricht über das Buch, das er schreibt, und Sophie schmiedet Pläne für das Wochenende, wenn Will Ausgang vom Internat hat.
»Wenn sich das Wetter so hält, werden wir auf jeden Fall auch segeln«, erklärt sie. »Will fährt immer gern auf den Fluss hinaus. Zum Glück spielen die Gezeiten mit.«
Rowena antwortet etwas, aber in Wahrheit plant sie die ganze Zeit über den Moment, in dem sie mit Jess allein sein kann, damit sie gemeinsam die Fotos ansehen und das Puzzle der Vergangenheit zusammensetzen können.
Als Sophie sie einlädt, sie zu begleiten, um Will abzuholen, weigert sich Jess.
»Er könnte ein wenig schüchtern sein«, sagt sie. »Und Gespräche zu dritt sind immer eine schwierige Sache. So haben Sie die Chance, ihn über mein Hiersein vorzuwarnen, und er kann sich nach mir erkundigen, ohne dass es ihm peinlich ist.«
Sie erinnert sich an ihre eigenen Fahrten ins Internat und zurück und daran, wie viel schöner es war, wenn sie Mutter oder Vater für sich hatte. Dann saß sie auf dem Beifahrersitz, redete mit ihnen und fühlte sich ganz erwachsen. Das mag sie Will nicht wegnehmen, obwohl sie, sobald er zu ihr in die alte Segelwerkstatt gelaufen kommt, erkennt, dass ihre Sorge wahrscheinlich überflüssig war. Er ist ein gelassener, selbstbewusster kleiner Junge, der gelegentlich die entrückte Miene eines Menschen hat, der in anderen Welten lebt. Will ist dünn, mit schmalen Gelenken und knochigen Knien, einem blonden Haarschopf und einem heiteren Ausdruck in den blaugrünen Augen – Johnnies Augen. Jess verliebt sich auf der Stelle in ihn.
»Ich wünschte, ich dürfte in der alten Segelwerkstatt schlafen«, erzählt er ihr neidisch, »aber ich darf nicht. Wir machen das in den Ferien, wenn meine Schwestern aus Genf und meine Cousins und Cousinen kommen, doch allein darf ich nicht. Wenn ich zwölf bin, sagt Mummy.«
Er sieht sie aus seinen erstaunlichen Augen an, und Jess erwidert den Blick. Sie spürt den merkwürdigen Drang, ihm jeden Wunsch zu erfüllen.
»Aber jetzt bin ich ja hier«, beginnt sie vorsichtig, »vielleicht könntest du heute bei mir in der Segelwerkstatt übernachten?«
Das kleine, schmale Gesicht leuchtet auf. »Geht das denn?«
»Ich wüsste nicht, was dagegen sprechen würde.« Jess sieht sich nach Sophie oder Johnnie um, weil sie fürchtet, irgendeine Regel zu brechen. »Sollen wir Johnnie fragen? Deinen Großvater, meine ich. Wie nennst du ihn denn?«
»Grando«, antwortet Will sofort. »Grando ist cool. Er ist bestimmt einverstanden, doch Sophie vielleicht nicht.«
»Wir müssen uns nach Sophie richten«, erklärt Jess bestimmt.
»Okay«, gibt er fröhlich zurück. »Es ist schön draußen auf dem Balkon, stimmt’s? Letzten Sommer habe ich von da aus ein paar echt coole Fotos geschossen.«
»Ich fotografiere auch«, sagt Jess. »Ich zeichne gern nach Fotos.«
»Lädst du sie auf deinem Computer hoch?«
Sie nickt. »Man kann sie dann vergrößern und richtig studieren.«
Er sieht sie beeindruckt an. »Sophie sagt, du hast einen richtig coolen Preis gewonnen. Hast du Sachen von dir dabei?«
»Nein. Ich habe alles bei einer Freundin in Bristol gelassen. Ich hoffe, hier etwas Neues anzufangen, aber eigentlich mache ich Ferien.«
»Segelst du gern?«
Sie nickt, und er wendet, zum ersten Mal ein wenig schüchtern, den Kopf ab.
»Wenn du magst, könnte ich mit dir hinausfahren«, sagt er beiläufig. »Ich habe ein Heron-Boot im Bootshaus liegen. Es gehört mir.«
»Wow! Du hast ein eigenes Boot?« Jetzt ist sie an der Reihe, beeindruckt zu sein. »Sehr gern.«
Er sieht sie wieder an, und sein Blick ist strahlend, beinahe spitzbübisch. »Wirklich? Die Gezeiten sind an diesem Wochenende günstig.«
»Abgemacht«, erklärt sie. »Aber wir sollten lieber noch …« Sie zögert und kann sich nicht ganz überwinden, Johnnie »Grando« zu nennen. »… Sophie fragen? Ich bin hier Gast und muss mich an die Hausregeln halten, verstehst
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