Das Paradies am Fluss
du?«
»Okay«, antwortet er fröhlich. »Sollen wir fragen gehen, ob ich heute hier übernachten darf? Dann kann ich meine Sachen gleich herbringen.«
An ihrem Tisch hält er inne, um ihre Kamera anzusehen. »So eine möchte ich auch gern haben«, gesteht er sehnsüchtig. Er betrachtet das kleine Bild. »Hast du das gemalt?«
»Nein. Es ist von dem Künstler, dessen Preis ich gewonnen habe. David Porteous. Gefällt es dir?«
Er beugt sich darüber und sieht es genauer an. »Hmmm. Es sieht richtig echt aus, oder? Als könnte man die Blume pflücken, und das Wasser sieht wirklich nass aus. Was steht da geschrieben?«
Jess zögert. Merkwürdig, sich in der Position zu finden, dass sie diesem kleinen Jungen, der das Gemälde so intensiv mustert, die Worte erklären muss. Sie hat beinahe das Gefühl, etwas zu verraten, das man ihr anvertraut hat.
»Da steht: Danke für alles. Es war vollkommen. In Liebe, D. David Porteous hat das Gemälde einer sehr guten Freundin geschenkt, die nicht lange danach gestorben ist.«
Die seegrünen Augen richten sich auf sie, und ihr intensiver Blick macht sie leicht unsicher. »Und hat die Freundin es dann dir geschenkt?«
Sie schüttelt den Kopf. »Nein, als sie starb, hat sie es zusammen mit vielen anderen Dingen einer Freundin von ihr namens Kate hinterlassen, die später David geheiratet hat. Und Kate hat es mir geschenkt, weil ich den nach ihm benannten Preis gewonnen habe. Sie hofft, dass es mich inspirieren wird.«
Seine weit aufgerissenen Augen bewegen sich, als stellte er sich die Geschichte vor, die sie ihm erzählt hat, und sähe die Personen vor sich. »Das war nett von ihr. Und es muss sehr wertvoll sein, daher war es auch großzügig. Du musst es versichern.«
»Ja«, sagt Jess, verblüfft über die praktische Wendung, die ihr Gespräch nimmt. »Ja, unbedingt. Komm, wir suchen Sophie und fragen sie, ob du hier übernachten darfst!«
Rowena beschließt, mit ihrem kleinen Test mit den Fotos noch ein paar Tage zu warten. Sie findet es zwar fast unmöglich, ihre Ungeduld zu bezähmen, aber ein Instinkt warnt sie, dass es klüger ist, wenn das Mädchen sich zuerst einlebt. Sie weiß, dass Jess ihre Aufregung spürt und sie das ein wenig argwöhnisch macht. Wenn Jess die Fotos sieht, darf keine angespannte Atmosphäre herrschen, keine Andeutung, dass sie etwas damit bezweckt. Es soll einfach ein glücklicher Moment sein, in dem man alte Schnappschüsse ansieht, damit die Vergangenheit etwas Fleisch auf die Knochen bekommt.
Sorgfältig schmiedet Rowena ihren Plan. Sie sitzt in dem sonnigen Morgensalon, schiebt Fotos und aufgeschlagene Alben hin und her und späht in große braune Umschläge, die vor Schnappschüssen fast aus den Nähten platzen. Seit diesem Tag im Bedford Hotel , als Kate ihnen erzählt hat, Jess werde eine Weile zu ihr kommen, plant Rowena. Sie hat nicht allzu viele Anhaltspunkte, die ihre langjährige Vermutung stützen, aber sie bietet alles auf, was sie hat: Puzzleteile. Sie sieht diese Teile deutlich vor sich, als lägen sie zusammen mit den Fotos auf dem Tisch. Jedes Stück steht für eine kleine Szene, die sich wieder und wieder vor ihrem inneren Auge abspielt.
Noch einmal sieht sie Al auf dem Weihnachtsball auf der HMS Drake mit Juliet tanzen. Mit geschlossenen Augen drückt er sie viel zu fest an sich, während Mike von der Bar aus zusieht. Sie hört Juliet angespannt und verzweifelt vor den Fenstern dieses Morgensalons flüstern: »Jetzt weiß ich, dass ich ihn nie hätte heiraten dürfen. Ich dachte, ich wäre verliebt in ihn. Das habe ich wirklich geglaubt. Woher sollte ich wissen, was kommen würde? Was sollen wir nur tun?« Und dann die leise gemurmelte Antwort: »Wir müssen eben sehr vorsichtig sein.«
Sie erinnert sich an die Woche, in der Juliet Hausgast bei ihnen war, während Mike auf See war. Juliet, die sich am Flussufer entlang zur Segelwerkstatt schleicht, und, kurz darauf, die schattenhafte Gestalt Als, der ihr folgt.
Und das letzte, wichtigste Puzzleteil, die Mittsommerparty. Der Seegarten ist ein magischer Ort. Zittrige Lichtreflexe flirren und hüpfen auf der glatten schwarzen Wasseroberfläche, und schattenhafte Gestalten tanzen oder lehnen sich unter der imposanten Circe-Figur an die Balustrade. Die hohen Lavendelhecken sind blasse, wolkenhafte Umrisse, deren Duft noch in der warmen Luft verweilt.
Und die wispernden Stimmen: Die erste spricht drängend, fordernd, die andere klingt verängstigt. Juliets Kleid ist
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